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Standard "Pflege von Senioren während einer Alkoholentgiftung"

Mit zunehmender Pflegebedürftigkeit bricht für viele Alkoholiker ein jahrelang aufgebautes Versorgungssystem zusammen. Abgeschnitten vom Apfelkorn und vom Eierlikör sind viele Süchtige erstmals seit Jahrzehnten unfreiwillig abstinent. Der kalte Entzug ist nicht nur eine Tortur, sondern auch eine immense Gefahr für die Gesundheit.


Standard "Pflege von Senioren während einer Alkoholentgiftung"


Definition:

  • Für Alkoholiker ist es sehr wichtig, die stetige Versorgung mit dem Suchtstoff zu gewährleisten. Solange sie körperlich aktiv sind, ist dieses kein größeres Problem. Alkohol kann praktisch überall gekauft werden.
  • Bei nachlassender Mobilität nutzen sie verschiedenste alternative Möglichkeiten, um sich weiterhin mit alkoholischen Getränken zu versorgen. So liefern etwa Pizzabringdienste auch Wein. Oder es wird ein Taxifahrer mit dem Einkauf beauftragt. Mit dem stetigen Fortschreiten der Pflegebedürftigkeit und insbesondere mit Beginn der stationären Versorgung wird der Nachschub unterbrochen. Die hohe Selbstbeteiligung an den Pflegekosten reduziert die finanziellen Möglichkeiten. Gleichzeitig ist der Kontrolldruck in Pflegeheimen ungleich höher als in der eigenen Häuslichkeit. Letztlich erleben viele Senioren in den letzten Lebensjahren einen abrupten Entzug.
  • Alkoholiker haben es im Laufe von Jahrzehnten gelernt, ihren Zustand selbst vor Familienangehörigen, Nachbarn und engen Freunden zu verbergen. Auch Pflegekräften fällt es schwer, die Sucht zu bemerken. Sie kennen den neuen Bewohner zunächst nicht gut genug und können sein Verhalten nicht einordnen. Zudem führt der Alkoholentzug zu einem Symptombild, das in ganz ähnlicher Form auch bei vielen hirnorganischen Degenerationsprozessen auftritt. Die Beschwerden können also fälschlicherweise z. B. einer Demenz zugeschrieben werden.
  • Bei langjährigem Alkoholmissbrauch wird der tägliche Konsum in den Stoffwechsel eingebaut. Sobald der Zustrom gestoppt wird, gerät auch der Stoffwechsel aus dem Gleichgewicht.
  • Große Alkoholmengen haben anfangs einen sedierenden Effekt bis hin zur Bewusstlosigkeit. Bei einem chronischen Alkoholkonsum passt sich das Gehirn an. Selbst erhebliche Alkoholmengen wirken dann nicht mehr sedierend. Falls der kontinuierliche Alkoholkonsum plötzlich unterbrochen wird, entfällt die hemmende Funktion des Alkohols. Das Gehirn ist daher übererregt und reagiert mit Entzugserscheinungen bis hin zum Entzugsdelirium.
  • Ein ungeregelter Entzug kann je nach Ausmaß der Sucht zu verschiedenen Ausfallerscheinungen führen. Die ersten Symptome treten vier bis zwölf Stunden nach dem letzten Alkoholkonsum auf.
  • Bei mäßiger Abhängigkeit bildet sich oftmals ein sog. "Prädelir" aus, der mit vergleichsweise moderaten Symptomen wie Tremor oder Schweißausbrüchen verbunden ist. Dieser Zustand dauert zumeist einige Tage bis Wochen.
  • Bei intensivem Alkoholmissbrauch erleiden Betroffene einen Entzugsdelir mit massiven Auswirkungen auf Atmung, Kreislaufsystem und Verdauung. Pflegebedürftige mit schweren Entzugssymptomen müssen daher intensivmedizinisch versorgt werden, da es jederzeit zu Komplikationen kommen kann; etwa Elektrolytstörungen oder akutes Nierenversagen.
  • Auch der mentale Zustand ist betroffen: Der Pflegebedürftige ist ggf. verwirrt und unberechenbar. Ohne jede Vorwarnung kann es zu aggressivem Verhalten gegenüber Mitbewohnern und Pflegekräften kommen. Nicht selten ist suizidales Verhalten, wie etwa ein Sprung aus dem Fenster.
  • Senioren haben aufgrund einer gesteigerten Empfindlichkeit des Gehirns gegenüber Alkohol ein höheres Risiko, ein Entzugssyndrom zu entwickeln.
  • Medikamente können die oben beschriebene Symptomatik lindern. Voraussetzung ist, dass der Zustand den Pflegekräften bekannt ist und der Bewohner den Entzug nicht verbergen konnte. Wichtig ist insbesondere eine Versorgung mit Vitaminen, etwa B1, B6 und B12.
  • Eine Entgiftung dauert zumeist 10 bis 14 Tage. Ist der Bewohner zusätzlich abhängig von Medikamenten oder von Drogen, verlängert sich diese Zeitspanne. Die sich daran anschließende Entwöhnungstherapie kann mehrere Monate dauern und in einem regulären Alten- und Pflegeheim durchgeführt werden.
Hinweise:
  • Einzelne der hier beschriebenen Maßnahmen übersteigen die fachlichen Ressourcen eines "normalen" Pflegeheims und richten sich an Fachkliniken, die sich auf die Versorgung von suchtkranken Senioren spezialisiert haben. Reguläre Pflegeheime sollten sich auf die Erkennung eines Entzugssyndroms sowie auf die daraus folgenden Notfallmaßnahmen konzentrieren und diesen Musterstandard entsprechend kürzen.
  • Aufgrund der inhaltlichen Parallelen ist es sinnvoll, diesen Standard gemeinsam mit den Pflegestandards "Vorgehen bei akuter Verwirrtheit" sowie "Pflege von Menschen mit Halluzinationen / Illusionen" zu implementieren.

Grundsätze:

  • Alkoholsucht kann in jeder sozialen Schicht auftreten, also auch bei Akademikern. Folglich kann es auch bei jedem Bewohner zu einem verdeckten Alkoholentzug kommen. Besonders suchtgefährdet sind ehemalige Ärzte, Piloten, Manager, Lehrer und Journalisten.
  • In keinem Fall werden wir den Bewohner mit Alkohol versorgen, um Entzugserscheinungen abzuwenden.

Ziele:

  • Wir erfahren frühzeitig von einer Alkoholabhängigkeit.
  • Eine einsetzende Entzugssymptomatik wird korrekt als solche erkannt.
  • Der Bewohner erhält zeitnah eine angemessene ärztliche Versorgung, damit er die Entzugsphase übersteht.

Vorbereitung:

Informationssammlung und Organisation

  • Wenn es hinreichende Anzeichen für eine Alkoholsucht gibt, suchen wir den Dialog mit dem Bewohner und mit seinen Angehörigen. Wir verdeutlichen, wie wichtig es ist, dass wir frühzeitig von einer Abhängigkeit und von deren Ausmaß erfahren.
  • Wir berücksichtigen, dass vom Heimeinzug bis zum Einsetzen der Entzugsproblematik Wochen oder Monate vergehen können. Viele Senioren verfügen über Alkoholreserven oder über Freunde, die Spirituosen in die Einrichtung mitbringen. Erst, wenn die Vorräte erschöpft sind und keine weitere Versorgung erfolgt, setzt der Entzug ein.
  • Wir suchen den Dialog mit dem behandelnden Arzt. Oftmals verfügt dieser über relevante Informationen zur individuellen Situation.
  • Einem neuen Bewohner mit Suchthintergrund wird eine erfahrene Pflegekraft als Bezugspflegekraft zugeordnet. Die Mitarbeiterin muss insbesondere über die notwendigen Kenntnisse im Bereich der Entzugssymptomatik verfügen. Weitere Qualifikationen sind eine gute Kommunikationsfähigkeit sowie Einfühlungsvermögen.
  • Soziale Bindungen erleichtern den Entzug. Daher prüfen wir, inwieweit Freunde und Angehörige eingebunden werden können. Wir stellen zudem sicher, dass Besucher keinen Alkohol in die Einrichtung mitbringen.

Symptomatik

Wir achten auf die typischen Symptome eines Alkoholentzugs:

  • Insbesondere am Morgen tritt ein feinschlägiger Tremor der Hände auf.
  • Der Blutdruck und die Herzfrequenz sind erhöht.
  • Die Zunge und die Augenlider zittern.
  • Der Bewohner ist unruhig und leicht reizbar.
  • Der Pflegebedürftige zeigt depressives Verhalten.
  • Der Bewohner erschrickt sich schon bei geringen Anlässen.
  • Es treten gehäuft Schweißausbrüche auf.
  • Der Pflegebedürftige zeigt keinen Appetit mehr.
  • Das Verdauungssystem ist beeinträchtigt. Es treten Durchfall und Erbrechen auf.
In 95 Prozent aller Fälle bleibt es bei dieser vergleichsweise milden Symptomatik. Nur ein geringer Teil der Betroffenen entwickelt die typischen Symptome eines schweren Alkoholentzugs. Ein Delir tritt gehäuft drei Tage nach der Unterbrechung der Alkoholversorgung auf.
  • Es kommt zu epileptischen Anfällen. Diese kündigen oftmals den Übergang in das Entzugsdelir an.
  • Es entwickelt sich ein grober Finger- oder Händetremor.
  • Es kommt zu Schlafstörungen.
  • Der Pflegebedürftige ist desorientiert und zeigt Denkstörungen. Er redet verworren und weitschweifig.
  • Der Wille des Betroffenen ist schwach. Er ist leicht zu beeinflussen (“Suggestibilität”).
  • Das Verhalten des Bewohners ist deutlichen Schwankungen ausgesetzt. Es wechseln sich Phasen von extremer Angst und Panik mit Abschnitten von Euphorie ab.
  • Der Pflegebedürftige zeigt Wahnvorstellungen (z. B. Vergiftungswahn).
  • Er sucht offensichtlich nach einer Beschäftigung, um sich abzulenken.
  • Der Gang des Bewohners ist unsicher. Der Gleichgewichtssinn ist offenbar gestört.
  • Die kardialen Störungen intensivieren sich; insbesondere kommt es zu Herzrhythmusstörungen.
  • Der Betroffene erleidet pulmonale Störungen.
  • Der Pflegebedürftige leidet unter Fieber, ohne dass es weitere Anzeichen für eine Infektion o. Ä. gäbe.
  • Der Bewohner leidet unter Halluzinationen. Insbesondere in Kombination mit Missempfindungen glaubt er, dass viele kleine Tiere über seine Haut krabbelten. Andere sehen weiße Mäuse auf dem Boden oder schwarze Spinnen an der Wand.
  • Der Pflegebedürftige zeigt Gedächtnisstörungen.

Durchführung:

Risikoabwägung

  • Wir prüfen, ob der Zustand des Pflegebedürftigen die Alarmierung des Notarztes erfordert. Dieses ist stets dann der Fall, wenn die Symptome auf einen Delir hindeuten. In diesem Fall rufen wir unverzüglich den Notarzt und bereiten die Überstellung des Bewohners in ein Krankenhaus vor.
  • Ein keinem Fall führen wir in unserer Einrichtung eine Entzugsbehandlung durch. Dieses auch dann nicht, wenn der Bewohner einen Krankenhausaufenthalt ablehnt.
  • Bei milderen Verläufen eines Alkoholentzugs kontaktieren wir den behandelnden Hausarzt. Gemeinsam prüfen wir, ob eine angemessene Versorgung in unserem Haus leistbar ist.

Pflegemaßnahmen im Rahmen des Entzugs

Die folgenden Pflegemaßnahmen sind nur für Entzugskliniken relevant:

  • Wir intensivieren die Maßnahmen zur Sturzprophylaxe. Insbesondere sollte der Bewohner ggf. entsprechende Protektoren tragen. Bei vielen Betroffenen ist es sinnvoll, dass diese bei jedem Fußweg (etwa zur Toilette) gestützt werden.
  • Wenn der Bewohner aus dem Bett zu fallen droht, kann er alternativ mit einer Matratze auf dem Boden schlafen (sog. “Schlafnest”).
  • Viele Alkoholkranke legen wenig Wert auf ihr Äußeres. Während der Entgiftung werden diese Betroffenen die Hygiene ggf. vollends vernachlässigen. Wir animieren den Bewohner, wenigstens ein Minimum an Körperpflege zuzulassen.
  • Wir prüfen, ob wir den Bewohner beschäftigen und somit ablenken können, also etwa mit Gartenarbeiten oder mit Handreichungen in der Hauswirtschaft.
  • Der körperliche und der mentale Zustand des Bewohners werden engmaschig überwacht. Insbesondere am Abend steigt das Risiko eines Delirs.
  • Wenn der Bewohner unter Fieber leidet, wenden wir geeignete Maßnahmen an, um die Körpertemperatur zu regulieren. Die Vorgaben des Standards "Pflege von Senioren mit Fieber" werden beachtet.
  • Wenn die Atemwege des Bewohners aufgrund der Applikation von Clomethiazol sehr verschleimt sind, muss er ggf. abgesaugt werden.
  • Bei einer Infusionstherapie prüfen wir, ob der Bewohner selbstschädigendes Verhalten zeigt. In diesem Fall ist es ggf. erforderlich, den Pflegebedürftigen zu fixieren und sein Verhalten engmaschig zu beobachten. Wir verhindern damit, dass er Infusionsschläuche herausreißt.
  • Wir beachten, dass während der Entgiftung das Suizidrisiko erhöht ist; dieses insbesondere bei einem zerbrochenen sozialen Umfeld.
  • Viele Betroffene werden zeitweise inkontinent und müssen mit entsprechenden Hilfsmitteln versorgt werden.
  • Zwei bis drei Tage nach Unterbrechung des Alkoholkonsums kann es dazu kommen, dass der Bewohner Stimmen hört. Wir wirken dann beruhigend auf ihn ein.
  • Wir motivieren den Pflegebedürftigen, die Entgiftung durchzustehen. Tatsächlich sind die ersten Tage am belastendsten. Danach nehmen die mentalen und die physischen Belastungen langsam wieder ab.
  • Wir stellen sicher, dass der Pflegebedürftige ausreichend Nahrung und Flüssigkeit zu sich nimmt.

medikamentöse Therapie

Gemeinsam mit dem behandelnden Arzt prüfen wir, inwieweit die Alkoholentgiftung durch Medikamente unterstützt werden kann.

  • Clomethiazol wird genutzt, um ein Delirium tremens zu vermeiden. Aufgrund des hohen Abhängigkeitspotenzials kann dieses Psychopharmakum längstens für zwei Wochen eingesetzt werden. Danach muss die Dosierung des Medikaments schrittweise reduziert ("ausgeschlichen") werden. Als Folge der Anwendung ist mit einer Zunahme der Bronchialsekretion zu rechnen. (Hinweis: Eine ambulante Verordnung ist zu riskant.) Bei fortgeschrittenen Herzkreislauferkrankungen kann ggf. Clonidin verabreicht werden.
  • Haloperidol unterdrückt wirksam Unruhe und Angstzustände. Bei der Anwendung dieses Neuroleptikums ist mit Müdigkeit, Schwächegefühl, Blutdruckabfall, Sehstörungen, Mundtrockenheit sowie mit einer Erhöhung des Augeninnendrucks zu rechnen. Besonders riskant ist die Induktion von Herzrhythmusstörungen.
  • Bei Krämpfen kann Diazepam verabreicht werden. Eine ununterbrochene, länger als einen Monat dauernde Anwendung sollte vermieden werden, da es zur Abhängigkeit kommen kann. Häufige Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Schwindelgefühl, Gang- und Bewegungsstörungen, Kopfschmerzen, Verwirrtheit sowie zeitlich begrenzte Gedächtnislücken.

Nachbereitung:

Prognose

  • Die Letalität bei einem schweren Alkoholentzug mit entsprechender Entzugssymptomatik liegt bei ein bis vier Prozent. Unterbleibt die stationäre Behandlung, steigt die Mortalität auf 20 Prozent. Die Betroffenen sterben insbesondere an den Folgen von Verletzungen, die sie sich im Delirium selbst zugefügt haben, etwa Aspiration, Stürze, zerebrale Blutungen oder Rippenfrakturen.
  • Wenn die Entgiftung erfolgreich verlaufen ist, schaffen es rund 20 Prozent der Suchtpatienten, dauerhaft abstinent zu bleiben.
  • Die Prognose verbessert sich auf rund 50 Prozent, wenn Betroffene eine mehrmonatige Entwöhnungstherapie erhalten. Hier ist es wichtig, den Bewohner bei der Überwindung der Trinkimpulse zu unterstützen. Angebote wie die Anonymen Alkoholiker oder das Blaue Kreuz können dabei helfen.
  • Ein Entzugsdelir kann in ein Korsakowsyndrom oder in eine Alkoholdemenz (“Dementia alcoholica”) übergehen.

weitere Maßnahmen

  • Der behandelnde Hausarzt wird regelmäßig über den Zustand des Bewohners informiert.
  • Alle gewonnenen Informationen werden in der Pflegedokumentation festgehalten.
  • Die Pflege von alkoholsüchtigen Bewohnern wird regelmäßig in Fallbesprechungen thematisiert.

Dokumente:

  • Pflegebericht
  • Pflegeplanung / Maßnahmenplanung

Verantwortlichkeit / Qualifikation:

  • Pflegefachkräfte
  • Pflegehilfskräfte



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