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SIS-Dokuschule
(Teil 4): Biografiearbeit
Beim
Biografiebogen zeigt sich, ob das neue Strukturmodell korrekt umgesetzt
wird. Denn eigentlich kommt die entbürokratisierte Pflegedokumentation
ohne ein solches Dokument aus.
SIS-Dokuschule
(Teil 4): Biografiearbeit
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Für eine individuell ausgerichtete Versorgung
ist das Wissen um den Lebenslauf eines Bewohners oder eines Klienten
sehr wichtig. Bei der Frage, wie der Pflegebedürftige zu dem Menschen
wurde, der er heute ist, spielen lebensgeschichtliche Wendepunkte eine
große Rolle. Also die vielen Erfolge und Rückschläge, Glücksmomente und
Tragödien, die den Lauf der Jahrzehnte prägen.
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Das Wort “Lebenslauf” klingt etwas zu sehr nach
Beruf und nach Bewerbung. Daher hat sich in der Altenpflege der Begriff
der “Biografie” durchgesetzt. Eine “Biografie” ist eine
zusammenfassende Beschreibung der wichtigsten Stationen und
Einflussfaktoren eines Lebens.
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Der Begriff “Biografiearbeit” umschreibt die
Beschäftigung mit diesen Informationen. Dazu zählen die Gewinnung der
Daten, deren Auswertung und Gewichtung sowie die spätere Nutzung, um
die Pflege an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. Bei der
Biografiearbeit handelt es sich um einen fortlaufenden Prozess, der am
ersten Tag der Versorgung beginnt und permanent fortgeführt wird.
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Ein Werkzeug, um eine strukturierte
Biografiearbeit durchzuführen, ist der sog. “Biografiebogen”. Mit
diesem Formular kann eine Pflegekraft anhand vorgegebener Fragen
wichtige Informationen zur Kindheit, zur Jugend und zum Leben als
Erwachsener erfragen und dokumentieren.
Zu viele Daten - zu
viel Schreibkram
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Das schematische AEDL-System verleitet viele
Pflegeteams dazu, auch die Biografiearbeit nach “Schema F”
abzuarbeiten. Etwa in der stationären Pflege: Direkt nach dem
Vertragsabschluss, spätestens jedoch zum Heimeinzug, macht sich die
Bezugspflegekraft an die Biografiearbeit. Bei einer Tasse Tee und
Gebäck wird der Pflegebedürftige zum Seelenstriptease samt
Offenbarungseid genötigt. “War Ihre Ehe intakt?”, “Wie waren Ihre
finanziellen Verhältnisse?” oder “Was haben Sie im Krieg erlebt?”.
Intimste Geheimnisse, von denen zumeist selbst nahe Verwandte nichts
ahnen, sollen preisgegeben werden. Der Bewohner, der die Pflegekraft
erst seit wenigen Tagen kennt, wird sich denken: “Was geht Dich das an?”
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Das ist natürlich gut gemeint. Es liegt nahe,
diese Daten zu sammeln, solange der Bewohner noch orientiert ist. Also
so früh wie möglich. Nicht selten schreitet eine demenzielle Erkrankung
so schnell voran, dass biografische Daten im Gespräch nicht mehr
erhoben werden können. Eine aktivierende Pflege oder eine validierende
Kommunikation ist jedoch ohne das Wissen über die individuellen
Lebensumstände erheblich erschwert.
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Dennoch: Die ungezielte Erfassung biografischer
Daten kollidiert in vielfacher Hinsicht mit der Zielsetzung des
Strukturmodells.
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Das neue Strukturmodell fordert eine
personenzentrierte Pflege. Wünsche und Bedürfnisse der
pflegebedürftigen Person stehen konsequent im Mittelpunkt der
Versorgung. Gleichzeitig wird ein größtmögliches Maß an
Selbstbestimmung gefordert. All das ist mit einem aufgenötigten Diskurs
über oftmals sehr belastende Erinnerungen nicht vereinbar.
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Ein wichtiges Anliegen des neuen Systems ist
die Vermeidung unnötiger Dokumentationsarbeit. Pflegekräfte sollen
Bürokratie vermeiden. Das Ausfüllen eines mehrseitigen Biografiebogens
“auf Verdacht” kostet jedoch Arbeitszeit. Außerdem müssen sich viele
Kollegen später in dieses aufgeblähte Dokument einlesen, bevor sie den
Bewohner versorgen.
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Das neue Strukturmodell fordert dazu auf, nur
solche biografischen Informationen zu erheben, die für die Versorgung
relevant sind. Nicht jeder alte Mensch leidet aber an Alzheimer. Bei
vielen Senioren sind nur körperliche Defizite ursächlich für die
Pflegebedürftigkeit. Für deren Versorgung sind nur wenige biografische
Daten notwendig.
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Obendrein werden auch Datenschutzbestimmungen
berührt. Ein Pflegeanbieter darf nur solche Daten erheben und
verarbeiten, die für die Erbringung der Dienstleistung erforderlich
sind. Die Erfassung von höchstpersönlichen Daten zur Schulbildung, zur
Konfession, zur politischen Orientierung oder zur finanziellen
Situation ist problematisch, wenn der Bewohner lediglich wegen eines
Schenkelhalsbruchs pflegerische Unterstützung benötigt. In der
ambulanten Versorgung erfolgen die Einsätze noch punktueller, etwa
lediglich zum Verbandswechsel. Biografische Daten werden da eigentlich
gar nicht benötigt. Der Verweis auf eine spätere Nutzung bei einer
(vielleicht irgendwann) eintretenden Demenz ist nicht ausreichend. Auf
der Homepage der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der
Patienten steht folgerichtig der Hinweis:
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“In jedem Fall sollte aber der Umfang der
Dokumentation biografischer Informationen im Hinblick auf [...] Aspekte
des Datenschutzes überprüft werden.”
Was macht das neue
Strukturmodell anders?
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Für Pflegeteams, die schon zu AEDL-Zeiten eine
gute Biografiearbeit geleistet haben, ändert sich durch die Umstellung
auf das Strukturmodell wenig. Allerdings setzt es in einigen Bereichen
andere Schwerpunkte. Dieses liegt aber vor allem daran, dass das neue
Strukturmodell einige Jahrzehnte jünger als das Krohwinkel-Modell ist.
In dieser Zeit hat sich der Kerngedanke einer personenzentrierten
Pflege deutlicher herausgebildet.
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Für die Biografiearbeit sollten nur solche
Informationen verwendet werden, die der Bewohner freiwillig gibt.
Inhaltliche Nachfragen sind erlaubt. Es wird aber nicht nachgebohrt.
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Die Daten werden später immer dann ergänzt,
wenn sich der Bewohner dazu äußert. Oder aber, wenn es einen Grund für
ein Nachforschen gibt. Beispiel: Eine Bewohnerin zeigt zusehends
Symptome ihrer fortschreitenden Alzheimererkrankung. Sie ruft laut nach
“Klara”. Jetzt würden Pflegekräfte natürlich gerne wissen, wer “Klara”
ist und welche Rolle sie im Leben der Bewohnerin spielt. Die
Pflegebedürftige zu befragen, geht zumeist nicht mehr. Aber vielleicht
gibt es ja auskunftswillige Angehörige.
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Anders als im AEDL-System wird im neuen
Strukturmodell die Nutzung der wörtlichen Rede konsequent gefordert.
Wann immer möglich, sollten Pflegekräfte den Bewohner zitieren und
seine eigenen Worte unkommentiert und unverändert in der
Informationssammlung festhalten. Auf ihrer Homepage macht die
Beauftragte der Bundesregierung deutlich, wie biografische Daten
erhoben und dokumentiert werden sollen:
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“Von besonderer Bedeutung ist hierbei die
Vorgabe, wesentliche Äußerungen der pflegebedürftigen Person zunächst
im ‘Originalton’ festzuhalten [...] und diese ‘Botschaften’ bei der
Verständigung zu der pflegefachlichen Situationseinschätzung in den
Themenfeldern zu beachten.”
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Das neue Strukturmodell sieht den Menschen (wie
schon oben erwähnt) “ganzheitlich”. Auch im Kontext der Biografiearbeit
hat dieser Begriff Bedeutung. So wird ein Pflegebedürftiger immer als
Wesen mit einer Vergangenheit, mit einer Gegenwart und mit einer
Zukunft wahrgenommen. Die biografischen Daten sind also nicht statisch.
Sie werden immer wieder aktualisiert. Dafür gibt es zwei Gründe: Das
Leben und somit auch die Biografie enden nicht mit dem Datum des
Heimeinzugs. Also gibt es immer auch neue Informationen. Außerdem sind
viele anfänglich erhobenen Angaben schlichtweg falsch. Dieses etwa,
weil sich ein Bewohner mit einer Notlüge den Fragen einer neugierigen
Pflegekraft entziehen will. Das jedoch zeigt sich erst im Laufe der
Zeit, wenn der Bewohner Vertrauen fasst und ursprüngliche Angaben
korrigiert.
Wer braucht einen
Biografiebogen?
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Im alten AEDL-System gilt der Biografiebogen
als praktisch unverzichtbar. Anbieter von Pflegedokumentationssystemen
überbieten sich damit, immer ausgefeiltere Musterbögen zu entwickeln.
Das Ausfüllen solcher Dokumente ist zeitraubend. Dieser Papierkrieg ist
auch auf die nun abgelöste Qualitätsprüfungsrichtlinie zurückzuführen.
Dort heißt es zur gewünschten Pflege von Demenzkranken:
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“Das Kriterium ist erfüllt, wenn die Pflege
und Betreuung auf der Grundlage relevanter Biografieangaben des
Bewohners erfolgt. Dazu gehören insbesondere Informationen zu
Gewohnheiten und Vorlieben (z. B. Weckrituale, die Berücksichtigung von
Vorlieben bei den Mahlzeiten und Schlafgewohnheiten). Weitere relevante
Biografieangaben können sich aus folgenden Bereichen ergeben: Bildung
und Beruf, Freizeit und Familie sowie besondere Lebensereignisse.”
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Die Entwickler des neuen Strukturmodells
wollten hier einen klaren Schnitt machen. Dieses ist so konzipiert,
dass in den allermeisten Fällen auf einen separaten Biografiebogen
verzichtet werden kann. Wichtige Informationen werden stattdessen in
den Themenfeldern schriftlich festgehalten oder direkt in die
Maßnahmenplanung überführt. In den Schulungsunterlagen heißt es dazu:
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“Biografische Angaben der pflegebedürftigen
Person werden im Rahmen der SIS erhoben, wenn sie eine Relevanz für die
derzeitige pflegerische Versorgung und Betreuung haben. Herkömmliche,
separate Biografiebögen sind dem spezifischen Einzelfall vorbehalten
und sollten ebenfalls in Ausprägung und Umfang im Hinblick auf die
Nutzenstiftung zur Versorgung kritisch überprüft und ggf. entsprechend
gekürzt werden.”
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Funktionieren die Themenfelder und die
Maßnahmenplanung als Ersatz für einen Biografiebogen? In den meisten
Fällen durchaus. Die Pflegekraft sollte sich fragen: Habe ich die
Wünsche, die Bedürfnisse und die relevanten biografischen Daten richtig
erfasst?
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An ihre Grenzen kommt die Strukturierte
Informationssammlung, sobald ein ungewöhnliches und somit nur
eingeschränkt kompatibles Pflegemodell genutzt wird. Das gilt etwa für
das psychobiografische Pflegemodell nach Böhm. Dieses benötigt viele
biografische Daten, deren Umfang und auch deren Strukturierung die
Informationssammlung überfordern.
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Ansonsten sollten sich Pflegeteams den Mut
nehmen, auf den Biografiebogen zu verzichten. Dieses Dokument ist keine
Voraussetzung für eine gute Biografiearbeit. Auf der Homepage der
Beauftragten der Bundesregierung wird festgestellt:
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“Im Praxistest
hat sich bestätigt, dass die im Strukturmodell empfohlene
Vorgehensweise zur Erfassung pflegerelevanter biografischer Aspekte die
notwendigen Informationen für den pflegerischen Alltag bereitstellt.
Die routinemäßige Erfassung umfangreicher biografischer Daten auf einem
eigenständigen Erhebungsbogen erscheint daher nicht erforderlich. Die
Entscheidung über den Einsatz von biografischen Angaben in einem
gesonderten Formular ist allerdings ins Ermessen der Einrichtung
gestellt.”
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Falls jedoch das Pflegeteam auf einen
Biografiebogen nicht verzichten will, sollte auch diese Entscheidung
konsequent umgesetzt werden. Die Schöpfer des neuen Strukturmodells
empfehlen die Nutzung zwar nicht, raten davon aber auch nicht explizit
ab. Daher haben Pflegeheime und ambulante Dienste bei der Umsetzung des
Strukturmodells einen großen Ermessensspielraum. In der neuen
Qualitätsprüfungsrichtlinie gibt es ohnehin kaum Vorgaben zur
Biografiearbeit. In der Fassung für die stationäre Pflege heißt es
wolkig:
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“Die
Unterstützung der versorgten Personen orientiert sich an individuell
bedeutsamen Ereignissen oder Erfahrungen im Lebensverlauf. Die
persönlichen Bezüge der versorgten Person zu solchen Ereignissen und
Erfahrungen werden genutzt, um den Alltag bedürfnisgerecht zu
gestalten, positive Emotionen zu fördern und – insbesondere bei
kognitiv beeinträchtigten Personen – die Bereitschaft zu Kommunikation
und Aktivität zu fördern.”
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Die Nutzung oder Nichtnutzung eines
Biografiebogens hat den MDK also nicht zu interessieren. Es ist nicht
prüfungsrelevant. Deutlich wichtiger ist, ob die lebensgeschichtlichen
Daten genutzt werden, um eine bedürfnisgerechte Pflege und Versorgung
zu erreichen.
Fazit:
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Es macht durchaus Sinn, den bislang für den
Biografiebogen aufgewendeten Arbeitsaufwand zukünftig in die
Maßnahmenplanung zu investieren. Da dadurch ein vitales und stets
aktuelles Dokument entsteht, wird dieses auch häufiger von anderen
Pflegekräften zur Kenntnis genommen. Doch welcher Mitarbeiter macht
sich schon die Mühe, den Biografiebogen komplett durchzulesen, wenn
dieser mit nicht relevantem Inhalt überfrachtet ist?
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