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SIS-Dokuschule
(Teil 5): Die Leitfragen zur Eigenwahrnehmung
Die
strikte Ausrichtung auf die personenzentrierte Pflege ist das Fundament
des neuen Strukturmodells. Ein Werkzeug, um die Wünsche und die
Bedürfnisse auszudrücken, ist die wörtliche Rede des Pflegebedürftigen.
Wann immer möglich, soll der Originalton in der Dokumentation
festgehalten werden. Jetzt gibt es dafür sogar ein eigenes Feld.
SIS-Dokuschule
(Teil 5): Die Leitfragen zur Eigenwahrnehmung
-
Um das unverfälschte Zitieren zu fördern, gibt
es in der Informationssammlung ein eigenes Feld: Die Eigenwahrnehmung
der pflegebedürftigen Person und Fragen zur Situation. In diesem Feld
(bezeichnet als Punkt “B”) kommt der Bewohner / Klient selbst zu Wort.
Er soll schildern, wie er seine derzeitige Situation, seinen
Hilfebedarf, seine Ängste, seine Befindlichkeiten und seine
individuellen Wünsche einschätzt. Die Schulungsunterlagen für das neue
Strukturmodell schlagen drei Einstiegsfragen vor:
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Was bewegt Sie im Augenblick?
-
Was brauchen Sie?
-
Was können wir für Sie tun?
-
Für die Tagespflege und für die Kurzzeitpflege
gibt es eine zusätzliche Frage:
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Nicht immer entsprechen die Angaben des
Bewohners der pflegerischen und medizinischen Wirklichkeit.
Insbesondere Demenzkranke verkennen die Situation, glauben sich selbst
in einem Hotel oder in einer Kurklinik. Sie schätzen die Realität
völlig falsch ein. Dafür ein Beispiel:
-
Herr Müller sagt: “Ich will nur, dass mein
Bein wieder gut wird. Dann kann ich wieder in meine Wohnung zurück.”
-
Pflegekräfte sind jetzt möglicherweise
versucht, die Fehlannahme zu kommentieren. In diesem Beispiel etwa
anzumerken, dass mit einer Abheilung des venösen Beingeschwürs nicht zu
rechnen ist und dass in seiner Eigentumswohnung längst die Enkelin
wohnt. Dieses ist jedoch nicht die Intention einer Eingangsfrage. Hier
kommt ausschließlich der Bewohner zu Wort. Die Schulungsunterlagen
stellen klar:
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Im Feld B soll die Erzählung der
pflegebedürftigen Person auf keinen Fall mit Fachvokabular versehen
oder (übersetzt) in der Fachsprache dokumentiert werden.
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Jede fachliche Bewertung muss unterbleiben. Die
Antworten des Bewohners werden als Zitat festgehalten, um eine
ungewollte Interpretation durch die Pflegekraft zu verhindern. Es gibt
dafür sogar einen Fachbegriff: “Narratives Interview”.
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Hinweis: In den darauf folgenden Themenfeldern
hingegen kann und soll interpretiert werden. Wenn also ein Bewohner
seinen längst erwachsenen Sohn zur Schule bringen will, kann die
Pflegekraft anmerken, dass der Pflegebedürftige zeitlich nicht mehr
orientiert ist und Weglauftendenzen zeigt.
Was tun, wenn der
Bewohner nicht gesprächig ist?
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Auch wenn die Pflegekraft den Eindruck
vermitteln will, wird der Bewohner schnell bemerken: Das hier ist keine
ungezwungene Plauderei. Jetzt möchte jemand Informationen von mir.
Viele Senioren machen dann die “Schotten dicht” und antworten
schmallippig mit “ja” oder mit “nein” - oder gar nicht. Das Feld “B”
können Sie damit natürlich nicht befüllen. Hinzu kommt, dass wörtliche
Rede auch bei der späteren Bearbeitung der Themenfelder enorm hilfreich
ist.
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Um einen produktiven Gesprächsfluss
einzuleiten, brauchen Pflegekräfte zunächst einen “Türöffner”, der per
Small Talk zum echten Informationsaustausch
überleitet. Das passende Thema findet sich am schnellsten, wenn man
einen Blick auf den Pflegebedürftigen und auf sein Umfeld wirft. Es
wird sich immer etwas finden, was dem Bewohner offensichtlich sehr
wichtig ist. Etwa ein Gegenstand, den der Pflegebedürftige stets bei
sich trägt. Schildern Sie Ihre Beobachtung, ohne gleich eine
tiefgehende Frage zu stellen. Mit einem solchen Impuls brechen Sie das
Eis und ermuntern den Bewohner zu einem Dialog. Nutzen Sie
Wohlfühlthemen, etwa:
-
Sie tragen da eine schöne Armbanduhr. Mein
Vater war Flugzeugingenieur und hatte ein ähnliches Modell.
-
Das ist aber eine hübsche Sportjacke. Der
Löwe ist doch von 1860 München, oder?
-
Sie haben eine schöne Frisur. Die erinnert
mich
sehr an den Pixie-Cut aus den Sechzigern. Hatte das Modell Twiggy nicht
einen ähnlichen Schnitt?
-
Ich sehe einen schönen Siegelring. Da ist ein
richtiges Wappen eingraviert, oder?
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Ein solches Gespräch beginnt oftmals mit
lebensgeschichtlichen Bezügen. Das ist durchaus praktisch, denn für die
Biografiearbeit benötigen Sie diese Daten ohnehin. Der Übergang in die
Themenfelder der SIS ist dann zumeist fließend.
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Offene Fragen sind besser als geschlossene
Fragen: Wer fragt “Brauchen Sie Hilfe bei der Körperpflege?”, erhält
als Antwort ein “ja” oder ein “nein”. Wenn Sie fragen “Wie können wir
Sie bei der Körperpflege unterstützen?”, hat größere Chancen auf eine
differenzierte Reaktion.
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Die Pflegekraft sollte immer nur eine Frage
stellen und die Antwort abwarten. Das kann bei älteren Menschen
durchaus einen Moment dauern. Es sollte vermieden werden, mehrere
Fragen hintereinanderzustellen. Fragen zu verschiedenen Sachthemen
werden nicht miteinander verkettet. Beispiel:
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Spielen Sie ein Instrument? Können Sie Noten
lesen? Sind Ihre Augen dafür noch gut genug?
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Notieren Sie das Gesagte zunächst unsortiert
und stichwortartig auf einem Papierblock. Es geht dabei nicht um ein
wortgetreues Protokoll, sondern nur um zentrale Aussagen, die sich für
das Feld B und für die Themenfelder eignen. Und auch hier beschränken
Sie sich auf die Hauptprobleme.
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Danach übertragen Sie die Informationen in die
SIS.
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Im Idealfall erhalten Sie dabei auch gleich die
Informationen, um die Grundbotschaft der Maßnahmenplanung zu
formulieren (siehe Teil 3 der Serie).
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Wenn der Bewohner keinerlei Angaben machen kann
oder will, wird dieses ebenfalls im Feld B festgehalten, etwa mit dem
Vermerk: “Herr Müller kann sich nicht äußern.” Nicht sinnvoll ist es,
wenn die Pflegekraft das leere Feld nun doch noch mit eigenen
Interpretationen füllt.
Was tun, wenn ein
Angehöriger das Gespräch dominiert?
-
Eine typische Situation: Der Gesundheitszustand
eines älteren Herren hat sich so verschlechtert, dass er nicht mehr in
seiner Wohnung leben kann. Auf sanften Druck seiner Tochter zieht er in
ein Pflegeheim um. Die Tochter ist im Gespräch anwesend und gibt den
Ton vor. Der Bewohner hingegen ist eher passiv und zurückhaltend.
-
Dass Bezugspersonen anwesend sind, kann die
Angaben zwar etwas beeinflussen, wird aber im neuen Strukturmodell
toleriert. Vor allem in der ambulanten Pflege beteiligen sich häufig
die Angehörigen an der Versorgung. Da muss die Arbeitsverteilung
ohnehin irgendwann ausgehandelt werden.
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Und es hat auch Vorteile, wenn der
Pflegebedürftige etwas Unterstützung aus seinem Umfeld erhält. Denn
häufig versteht der Bewohner die Frage nicht richtig. Der Angehörige
kann diese dann umformulieren. Andere Senioren sind etwas
zurückhaltend, wenn es um persönliche Themen geht. Auch da wird es
helfen, wenn die Tochter oder der Sohn ihn entsprechend motivieren. In
jedem Fall verläuft das Gespräch dann zumeist schneller. Das ist
wichtig, denn die Konzentrationsspanne von Hochbetagten ist begrenzt.
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In jedem Fall sollten sich Pflegekräfte nicht
scheuen, die Aussagen ungefiltert zu übernehmen. Die
Informationssammlung fängt dann an “zu sprechen”. Die Pflegeprobleme
werden so viel sichtbarer, als in jedem fachsprachlichen Aufsatz. Ein
Praxisbeispiel:
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Die Pflegekraft führt das Erstgespräch mit
Herrn Schulze. Anwesend ist auch sein Sohn. Die Pflegekraft fragt den
Bewohner: “Was können wir für Sie tun? Welche Wünsche haben Sie?”.
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Der Bewohner antwortet: “Ich brauche keine
Hilfe. Ich wasche mich allein. Und bei den Klamotten soll mir keiner
reinreden. Ich bin hier, weil mein Sohn das so sagt. Aber das ist alles
Quatsch.”
-
Der Sohn unterbricht: “Natürlich brauchst Du
Hilfe. Du wechselst die Unterwäsche bestenfalls einmal in der Woche.
Deine Hose ist fleckig. Und in der Wohnung rennst Du nur im Unterhemd
rum. Das geht so nicht weiter.”
-
Die wörtliche Rede könnte man eins zu eins
übernehmen. Alle Aussagen, sowohl die des Bewohners als auch die der
Bezugsperson, werden im Feld B dokumentiert. Hier muss kenntlich
gemacht werden, welcher Satz von welcher Person kommt.
-
Mitunter ist es aber auch so, dass der Bewohner
antworten könnte, aber nicht zu Wort kommt, weil der Angehörige das
Gespräch an sich reißt. Dann ist es sinnvoll, die Bezugsperson darüber
zu informieren, wie wichtig die eigenständigen Antworten des Bewohners
sind. Vielleicht ist ja auch ein Kompromiss möglich. Erst redet der
Bewohner, dann der Angehörige. Viele Bezugspersonen möchten einfach nur
sichergehen, dass die Pflegekraft alles Wichtige erfährt.
-
Letztlich muss jedoch klar sein: Die
Bedürfnisse des Bewohners stehen stets an erster Stelle. Die Wünsche
von Angehörigen sind auch wichtig, ggf. jedoch nachrangig.
Umsetzung der
Leitfragen in die Praxis
-
Die Leitfragen als solche sind leider nicht
sehr praxistauglich. Welcher alte Mensch weiß schon eine allumfassende
Antwort, wenn er gefragt wird: “Was bewegt Sie im Augenblick?” Niemand
fragt so. Daher ist es hilfreich, die Fragen zu konkretisieren und an
die Lebenswirklichkeit anzupassen.
-
Statt “Was bewegt Sie im Augenblick?” fragen
Sie beispielsweise:
-
Wie geht es Ihnen?
-
Wie fühlen Sie sich?
-
Gibt es etwas, was Sie aktuell sehr
beschäftigt?
-
Was ist passiert, dass Sie unsere
Unterstützung benötigen?
-
Haben Sie sich schon etwas bei uns eingelebt?
-
Sorgen Sie sich darüber, wie es hier
weitergeht?
-
Statt “Was brauchen Sie?” fragen Sie
beispielsweise:
-
Gibt es etwas, was Sie sich wünschen?
-
Was tun Sie am liebsten?
-
Haben Sie wichtige Gewohnheiten?
-
Wie verläuft ein ganz normaler Tag bei Ihnen?
-
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, welcher
wäre das?
-
Statt “Was können wir für Sie tun?” fragen Sie
beispielsweise:
-
Können Sie noch gut zu Fuß gehen?
-
Können Sie eigenständig essen?
-
Wie können wir Sie unterstützen?
-
Was möchten Sie lieber allein machen?
Praktischer Nutzen
der Eigenwahrnehmung.
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Natürlich macht es wenig Sinn, die
Eigenwahrnehmung des Bewohners zu erfragen und zu dokumentieren, wenn
die Daten danach nicht genutzt werden. Dieses kann etwa in der
Maßnahmenplanung erfolgen.
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Der Bewohner gibt beispielsweise zu Protokoll:
-
“Wenigstens ein Gutes hat die Sache: Ich
komme
hier wieder unter Leute. In meiner Wohnung ist mir doch immer die Decke
auf den Kopf gefallen.”
-
Die anwesende Tochter ergänzt:
-
Seit dem Tod meiner Mutter ist mein Vater
häufig allein. Viele seiner Freunde und Vereinskameraden sind ja auch
schon lange tot. Ich wäre sehr erleichtert, wenn er jetzt wieder etwas
Anschluss findet.”
-
Solche Angaben müssen natürlich in der
Maßnahmenplanung berücksichtigt werden. Die Pflegekräfte werden den
Bewohner daher dazu animieren, an den Freizeitaktivitäten der
Einrichtung teilzunehmen. Sie werden ihn auch Mitbewohnern vorstellen,
die ähnliche Interessen haben.
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Noch ein Beispiel. Eine Bewohnerin äußert sich
folgendermaßen:
-
Ich bin nicht mehr so gut auf den Beinen,
weil
meine Hüfte völlig kaputt ist. Das macht mich wirklich sehr traurig.
Als mein Mann noch lebte, sind wir häufig mit unserer Trixi Gassi
gegangen. Aber das ist schon so lange her.
-
Ein aufmerksamer Leser kann hier gleich drei
wichtige Punkte für die Maßnahmenplanung herauslesen. Erstens ist die
Bewohnerin offenbar sehr motiviert, sich an der Erhaltung der eigenen
Mobilität zu beteiligen. Zweitens ist es offenbar sehr wichtig, die
sozialen Kontakte zu fördern und einer Vereinsamung entgegenzuwirken.
Und der Verweis auf das Haustier verrät, dass sich die Bewohnerin über
eine Visite des Tierbesuchsdienstes sehr freuen würde.
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