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SIS-Dokuschule (Teil 6): Wo sind
die Pflegeziele hin?
Das
neue Strukturmodell setzt auch beim Pflegeprozess auf einen
konsequenten Kahlschlag. Von den bisher sechs Stationen werden
kurzerhand zwei gestrichen. Eines der gekappten Elemente ist die
separate Zielformulierung.
SIS-Dokuschule
(Teil 6): Wo sind die Pflegeziele hin?
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Für die
Strukturierung eines Pflegeprozesses gibt es verschiedenste Varianten.
Seit den 80er-Jahren hat sich in Deutschland der sechsstufige
Pflegeprozess von Fiechter und Meier mehr und mehr durchgesetzt.
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Der
erste Schritt ist die Informationssammlung. An diese schließt sich
unmittelbar der zweite Schritt an: Basierend auf den gewonnenen Daten
benennt die Pflegekraft die Probleme und die Ressourcen des Bewohners
(bzw. des Klienten). Danach legt sie im dritten Schritt die Pflegeziele
fest. Es folgt als Schritt vier die Planung der Pflegemaßnahmen, die
dann im fünften Schritt umgesetzt werden. Den Abschluss bilden als
Schritt sechs die Evaluierung und die Bewertung der Pflege.
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Im neuen Strukturmodell
werden die Punkte “Erkennen von Problemen und Ressourcen” sowie
“Festlegen von Pflegezielen” nicht mehr separat behandelt und
verschriftlicht. Es bleiben also nur vier Elemente. Der erste Schritt
ist die Einschätzung des Pflegebedarfs und die Erstellung der
Pflegeanamnese. Darauf folgt die Planung der Pflege (Schritt zwei). Die
Durchführung der Pflege bildet den dritten Schritt. Danach wird im
vierten Schritt die Pflege bewertet.
Indirekte
Zielformulierung
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Aus dem Wegfall der
expliziten Zielformulierung folgt jedoch nicht, dass die
Pflegemaßnahmen jetzt völlig orientierungs- und planlos durchgeführt
werden. Natürlich macht sich eine Pflegekraft weiterhin Gedanken
darüber, was sie mit ihren Maßnahmen erreichen will. Allerdings erfolgt
dieses nunmehr an anderen Stationen des Pflegeprozesses.
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Wenn die Punkte aber
lediglich neu verteilt werden, wo bleibt dann die Zeitersparnis?
Tatsächlich gibt es unterm Strich eine merkliche Arbeitserleichterung.
Kurioserweise ist das jedoch nur ein Nebeneffekt. Die Straffung des
Pflegeprozesses soll primär den “kompletten Systemwechsel”
verdeutlichen. Dahinter steht - einmal mehr - die Forderung nach einer
“ganzheitlichen” Pflege. Das alte AEDL-Modell erfüllte diesen Anspruch
nicht, denn es “zerlegt” den Pflegebedürftigen in viele kleine
Teilaspekte; also etwa in Diagnosen, in Pflegeprobleme und in
Ressourcen. Und noch gravierender: Die Ziele, die die Pflegekraft
formuliert, sind vielleicht gar nicht deckungsgleich mit den
Vorstellungen des Bewohners. Wenn ein alter Mensch zu viel raucht und
trinkt, wird eine Pflegekraft eine Normalisierung des Konsumverhaltens
anstreben und dieses als Ziel formulieren. Der Pflegebedürftige jedoch
will vielleicht auf seinen “Jack Daniel's” und auf die tägliche Packung
“Gauloises Blondes” nicht verzichten. Er hat eigene Ziele.
Die SIS funktioniert
anders
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Und genau dafür wurde die
strukturierte Informationssammlung (“SIS”) erfunden, quasi das
“Allzweckwerkzeug” des neuen Strukturmodells. Dieses rückt nicht nur
die Wünsche und die Bedürfnisse des Bewohners ins Zentrum. Es wird auch
zu dessen “Sprachrohr”. Das zeigt sich exemplarisch bei der
Zielformulierung. Für die SIS werden die Aussagen des Bewohners (oder
des Klienten) wortwörtlich aufgenommen und dokumentiert. In den meisten
Fällen sind dessen Wünsche ja auch durchaus realistisch und umsetzbar.
Nicht jeder alte Mensch ist dement und somit unvernünftig. Wenn dessen
Vorstellungen nur in Teilen durchführbar sind, ist ein
“Verständigungsprozess” vorgesehen. Die Pflegekraft und der Bewohner
definieren dann die Ziele gemeinsam, was in der Praxis nicht selten ein
mühseliges Aushandeln erfordert. Die strikte Beachtung der
Individualität und der Selbstbestimmung des Senioren hat immer die
oberste Priorität. Soweit irgend möglich richtet sich der gesamte
Pflegeprozess nach diesen Wünschen. Ein Beispiel:
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Herr Müller leidet an
Morbus Parkinson. Sein Gangbild ist beeinträchtigt. Er trägt bevorzugt
Filzpantoffeln, lässt das Gangtraining regelmäßig ausfallen und lehnt
die Nutzung eines Rollators als “Weiberkram” ab. Hüftprotektoren will
er weder kaufen noch tragen. Seine Ziele unterscheiden sich
offensichtlich von denen der besorgten Pflegekraft. Jetzt muss ein
Aushandlungsprozess eingeleitet werden. Dieses kann dazu führen, dass
der Bewohner zukünftig festes Schuhwerk trägt und zumindest bei
längeren Strecken den Rollator nutzt. Der Aushandlungsprozess und die
Aussagen des Bewohners werden im passenden Themenfeld der SIS vermerkt.
Das Ausformulieren von Zielen ist dann nicht mehr notwendig. Die
konkreten ausgehandelten Schritte zur Sturzprophylaxe trägt die
Pflegekraft schließlich in die Maßnahmenplanung ein.
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In vielen Pflegeteams hat
es sich bewährt, dass die Pflegekraft, der Bewohner und auch die
Angehörigen den SIS-Bogen unterschreiben und den ausgehandelten
Kompromiss somit “amtlich besiegeln”. Das ist rechtlich eigentlich gar
nicht notwendig. Es erhöht jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass sich der
Bewohner an die vereinbarten Ziele hält und sich nicht gegen
unangenehme Pflegemaßnahmen sperrt. Eine Unterschrift hat schließlich
ganz anderes Gewicht als ein Nicken und ein zustimmendes Murmeln.
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Die Ziele sind jetzt direkt an die Maßnahmen
gekoppelt. In den SIS-Schulungsunterlagen heißt es dazu:
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“Die Maßnahmenplanung
erfolgt handlungsleitend; Ziele, die sich aus der SIS insbesondere
durch die Wünsche und Interessen der pflegebedürftigen Person ergeben,
sind immanent enthalten.”
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Diese Formulierung ist
etwas missverständlich. Denn tatsächlich sind die Ziele nicht “in den
Maßnahmen” selbst enthalten, sondern nur in deren Ausformulierung in
der Maßnahmenplanung. Die notwendigen Handlungen werden also in der Art
in der Maßnahmenplanung verschriftlicht, dass man beim Lesen ableiten
kann, was damit wohl bezweckt wird.
Umsetzung der
handlungsanleitenden Maßnahmen
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Was heißt das in der
Praxis? Beispielsweise dieses: Eine Bewohnerin leidet unter einer
Instabilität des Kreislaufs. Die Pflegekraft erfasst dieses Problem im
Rahmen der Informationssammlung. In die Maßnahmenplanung nimmt sie auf,
dass die Bewohnerin bei jedem Verlassen des Betts Unterstützung
erhalten soll. Jede Pflegekraft wird beim Lesen der Maßnahmenplanung
den Sinn und den Zweck dieser Vorsichtsmaßnahme erkennen. Ganz klar:
Hier wird einem Sturz vorgebeugt. In einer konventionellen
AEDL-Pflegeplanung stände jetzt in der Spalte “Ziele” brav: “Wir
vermeiden es, dass der Bewohnerin schwindelig wird. Ein Sturz wird
abgewendet.” Im neuen Strukturmodell verzichten Pflegekräfte auf diese
unnötige Schreibarbeit.
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Noch ein paar Beispiele für handlungsanleitende
Maßnahmen und die darin enthaltenen Ziele:
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Maßnahmen: “Darauf achten,
ob sich der Bewohner Schuhe und Mantel anzieht. Weglaufen steht dann
unmittelbar bevor. Bei Weglaufverhalten gemeinsam das Fotoalbum
ansehen. Musik-CD ‘Ohrwürmer - 50er & 60er’ einlegen und 15 Minuten
laufen lassen.” Enthaltene Ziele: “Weglaufen verhindern und Bewohner
vor Gesundheitsgefahren schützen. Weglaufverhalten durch Beschäftigung
kanalisieren.”
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Maßnahmen: “Beim
Toilettengang beim Öffnen des Gürtels und der Hose helfen. Zeitung oder
Zeitschrift anbieten. Bewohner beim Abführen allein lassen.” Enthaltene
Ziele: “Berücksichtigung individueller Gewohnheiten beim Toilettengang.
Bewahrung der Privatsphäre und einer möglichst umfassenden
Selbstständigkeit.”
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Maßnahmen: “Jeden Abend um
21.45 Uhr zum ‘Heute Journal’ ein Glas Cola und ein Stück Marzipan
anbieten.” Enthaltene Ziele: “Wünsche und Gewohnheiten des Bewohners
berücksichtigen. Hilfe zur Tagesstrukturierung.”
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Maßnahmen:
“Ganzkörperwaschung sitzend am Waschbecken. Waschutensilien nur
bereitlegen. Klient verwendet diese dann eigenständig. Motivieren, die
Reinigung komplett durchzuführen, inkl. des Intimbereichs. Reinigung
des Rückens und der Beine unterhalb der Knie erfolgt durch die
Pflegekraft. Danach trägt der Klient Körperlotion auf, benötigt dabei
Hilfe.” Enthaltene Ziele: “Sicherstellung der Körperhygiene.
Gewährleistung der Hautpflege. Erhaltung der Eigenständigkeit.
Berücksichtigung individueller Vorlieben und Gewohnheiten.”
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Es gibt noch eine wichtige
Ausnahme: Wenn Ärzte oder Therapeuten Ziele definieren, werden diese
natürlich weiterhin verschriftlicht. Dieses gilt etwa für einen
kachektischen Senioren, der mittels Spezialnahrung innerhalb einer
festgelegten Zeitspanne ein vorgegebenes Gewicht erreichen soll. Ein
weiteres Beispiel wäre ein Patient, der nach der Fraktur eines Gelenks
ein definiertes Maß an Beweglichkeit zurückgewinnen soll. Oder wenn ein
Blutdruckwert nicht überschritten werden darf. Diese Vorgaben fixiert
die Pflegekraft schriftlich und explizit etwa im Maßnahmenplan; oder
alternativ in anderen Formularen wie etwa im Medikamentenblatt.
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Das System steht und fällt
somit mit der fachlichen Qualifikation des Mitarbeiters. Eine gute
Pflegefachkraft weiß, welche Ziele beispielsweise mit einer
validierenden Kommunikation erreicht werden. Ihr wird wohl auch bekannt
sein, welche Absichten mit der regelmäßigen Durchführung von aktiven
oder passiven Bewegungsübungen verknüpft sind. Leider zeigt sich in der
Realität oftmals ein anderes Bild. Aus Personalnot werden Mitarbeiter
eingestellt, deren Berufskompetenz lückenhaft ist. Mit dem starren
AEDL-System kommen diese Kräfte gerade so über die Runden, da hier
hinter jeder Maßnahme immer auch das jeweilige Ziel steht. Wo nicht
eigenständig interpretiert werden muss, entstehen auch weniger Fehler.
Das Krohwinkel-Modell ist unflexibel und bürokratisch, dafür aber ist
es (umgangssprachlich ausgedrückt) “idiotensicher”. Teams mit nur mäßig
qualifiziertem Personal sollten sich den Umstieg auf das neue
Strukturmodell genau überlegen.
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