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MDK-Prüfung (Qualitätsaspekt 4.4 / Freiheitsentziehende Maßnahmen)
Über
den Sinn und Unsinn von Fixierungen wird seit Jahren kontrovers
diskutiert. Die Prüfungsrichtlinien setzen hierbei auf einen
Kompromiss. Freiheitsentziehende Maßnahmen bleiben zulässig, aber nur
unter bestimmten Voraussetzungen. Zwingend notwendig ist eine strenge
Beobachtung.
MDK-Prüfung (Qualitätsaspekt 4.4 / Freiheitsentziehende Maßnahmen)
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Nach Schätzungen des Medizinischen Dienstes
werden 20 Prozent der über 700.000 stationär versorgten Senioren in
Deutschland regelmäßig fixiert. In jedem vierten dieser Fälle wird
dafür ein Bettgitter genutzt. Darüber hinaus kommen Hüftgurte und
Steckbretter zum Einsatz. Als Grund für die Anwendung
freiheitsentziehender Maßnahmen geben Pflegekräfte zumeist eine erhöhte
Sturzgefährdung an. Hinzu kommen Verhaltensweisen wie Aggressionen,
Unruhe und Laufzwang.
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Über die Notwendigkeit von
freiheitsentziehenden Maßnahmen gibt es sowohl in der Fachwelt als auch
in der breiten Öffentlichkeit unterschiedliche Ansichten. Die
Standpunkte reichen von einem kontrollierten Einsatz derartiger
Interventionen bis zum völligen Verzicht. Die neue Prüfrichtlinie gibt
hier einen Mittelweg vor. Freiheitsentziehende Maßnahmen sind zulässig,
aber nur als allerletztes Mittel und unter Beachtung zahlreicher
Beschränkungen.
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Im ersten Schritt muss die Einrichtung
aufzeigen, welches Verhalten des Bewohners so problematisch ist, dass
es unterbunden werden muss; letztlich etwa durch Fixierungen. Ist der
Bewohner aggressiv? Schlägt er oder beißt er? Beschädigt er
Gegenstände? Flüchtet er im T-Shirt mitten im Winter aus der
Einrichtung?
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Die zweite Hürde ist die Prüfung, ob
freiheitsentziehende Maßnahmen überhaupt notwendig sind. Hier muss die
Einrichtung darlegen, welche milderen Mittel sie erfolglos ausprobiert
hat; also etwa Gespräche, Zehn-Minuten-Aktivierung, basale Stimulation,
Snoezelen, Aromatherapie oder Musiktherapie. Gab es eine
Fallbesprechung zu diesem Thema? Angesichts der Brisanz dieses Themas
sollte all das in der Pflegedokumentation und in Protokollen nachlesbar
sein. Fehlende Details können im pflegefachlichen Gespräch zwischen dem
Prüfer und der Pflegekraft nachgereicht werden.
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Der Qualitätsaspekt ist thematisch sehr
weitreichend. Er umfasst mechanische Fixierungsmaßnahmen, also primär
Bettseitenteile und Gurtsysteme, außerdem Isolation und auch den
Einsatz von ruhig stellenden Medikamenten („chemische Fixierung“). Ob
dazu auch das Zurückhalten des Bewohners beim Verlassen der Einrichtung
durch einen Pförtner oder durch das Pflegepersonal zählt, muss sich
noch zeigen.
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Die im Fragenkatalog genannte “Isolation” ist
in der Altenpflege nahezu unbekannt. In psychiatrischen Kliniken wird
dafür ein Patient mit einer Matratze in einem ansonsten leeren Raum
eingeschlossen. In Pflegeheimen ist dieses allein schon aus
strukturellen Gründen nicht möglich. Es gibt keine Sichtfenster in den
Türen und auch keine Videoüberwachung.
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Der MDK wird prüfen, ob ein orientierter
Bewohner eine Einwilligung erteilt hat. Alternativ muss die Einrichtung
eine richterliche Genehmigung bzw. eine richterliche Anordnung vorlegen.
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Relevant ist dieser Aspekt nur, wenn beim
Bewohner aktuell freiheitsentziehende Maßnahmen eingesetzt werden oder
wenn diese in den letzten vier Wochen durchgeführt wurden.
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Im Rahmen dieses Qualitätsaspekts erfolgt auch
die Plausibilitätskontrolle für zwei Qualitätsindikatoren. Die
Kennzahlen erfassen lediglich die Anwendung von Gurten und die Nutzung
von Bettseitenteilen, aber keine anderen der vielen möglichen Optionen
zur Freiheitsbeschränkung. Der MDK wird prüfen, ob die Angaben der
Ergebniserfassung zu den Informationen aus anderen Quellen passen.
Frage: Wird die Notwendigkeit der eingesetzten freiheitsentziehenden Maßnahmen regelmäßig überprüft?
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Fixierungen dürfen kein Dauerzustand sein. Sie
müssen so schnell wie möglich beendet werden. Folglich ist die
Notwendigkeit immer wieder zu hinterfragen. Das Überprüfungsintervall
ist abhängig vom Krankheitsbild und vom Pflegezustand des Bewohners.
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Bei stabilen Zuständen kann mehr Zeit
zwischen den Überprüfungen liegen. Beispiel: Ein Bewohner leidet an
Alzheimerdemenz, die in seinem Fall auch keine größeren Schwankungen
aufweist. Sollte in diesem Fall eine Fixierung notwendig werden, ist
diese Intervention morgen, übermorgen und in einer Woche
höchstwahrscheinlich immer noch gerechtfertigt.
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Bei schwankenden Zuständen muss häufiger
geprüft werden. Beispiel: Ein Bewohner leidet an einer bipolaren
affektiven Störung. In seinen manischen Episoden kommt es immer wieder
zu riskanten Verhaltensweisen, die eine Fixierung rechtfertigen.
Allerdings geht das Verhalten schnell in eine depressive Phase über.
Nicht selten bildet sich die gesamte Symptomatik auch für Wochen
zurück. Sobald keine akute Gefährdung mehr anzunehmen ist, müssen die
Maßnahmen unverzüglich wieder aufgehoben werden.
Frage: Erfolgt der Einsatz der Maßnahmen fachgerecht?
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Zunächst wird der MDK prüfen, ob die
angewendeten freiheitsentziehenden Maßnahmen technisch korrekt
erfolgen. Das Anlegen einer 5-Punkt-Fixierung mit einem zusätzlichen
Bauchgurt ist durchaus herausfordernd und fehleranfällig. Gurte können
zu straff oder zu locker sein. Der Bewohner bekommt vielleicht
Atemprobleme. Oder die Stifte und die Platten sind nicht eingerastet.
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Die Risiken für den Bewohner müssen durch eine
fachgerechte Anwendung minimiert werden. Nur so ist sichergestellt,
dass die Fixierung nicht mehr Probleme schafft, als sie beseitigt. Da
sich der fixierte Pflegebedürftige kaum noch im Bett oder im Rollstuhl
bewegen kann, stellen sich schnell all die typischen Probleme ein, die
Immobilität mit sich bringt. Das Pneumonierisiko steigt. Es bilden sich
Kontrakturen oder gar Druckgeschwüre.
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Die Intimsphäre und die Würde des Bewohners
müssen gewahrt werden. Fixierte Senioren müssen vor den Blicken der
Mitbewohner geschützt werden. In keinem Fall wird ein Bewohner samt
Gurtsystem über den Wohnbereichsflur geschoben. Außerdem wird ein
Bewohner nur im vollständig bekleideten Zustand fixiert.
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Eine häufige Fehlerquelle ist die
Bedarfsmedikation. Hier müssen Pflegeeinrichtungen darauf achten, dass
diese sehr präzise erfolgt. Häufig formuliert der Hausarzt etwa so:
“Melperon 25 mg Filmtabletten bei Unruhezuständen.” Was bedeutet
“Unruhezustände”? Diese Entscheidung läge bei der Pflegekraft, was ihre
Kompetenzen überschreitet. Also wird der Arzt um eine eindeutige
Formulierung gebeten:
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“Wenn sich der Bewohner am Abend trotz
intensiver Bemühungen über einen Zeitraum von zwei Stunden umherirrt,
sich nicht ins Bett legen will und Mitternacht überschritten ist.”
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“Wenn der Bewohner im Gemeinschaftsraum gewalttätig wird gegen Gegenstände oder gegen Personen.”
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“Wenn der Bewohner über einen Zeitraum von einer Stunde ununterbrochen schreit und sich nicht beruhigen lässt.”
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“Wenn der Bewohner andere Personen anschreit und sie verdächtigt, ihn ermorden zu wollen.”
Mögliche Konfliktpunkte:
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Der MDK sieht über kleinere
Dokumentationsmängel wie üblich hinweg. Beispiel: Der Zeitpunkt und die
Art der Maßnahme sind ungenau bezeichnet. Beispiel: In der
Dokumentation ist nur von einer “Fixierung” die Rede. Tatsächlich
handelt es sich um eine “4-Punkt-Fixierung mit Festbinden aller
Extremitäten”.
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Schnell ist man im Bereich einer “C-Wertung”:
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Es erfolgt keine regelmäßige Überprüfung, ob
die freiheitsentziehenden Maßnahmen weiterhin notwendig sind. Oder es
wurde zwar geprüft, das Ergebnis dieser Überprüfung findet sich aber
nicht in der Dokumentation. Beispiel: Herr Müller lebt im Pflegeheim.
Er hat immer wieder psychotische Schübe, in deren Verlauf er andere
Bewohner anschreit und auch körperlich angreift. Er erhält in solchen
Fällen eine sedierende Medikation und wird außerdem fixiert. Formal
stimmt alles. Es gibt eine richterliche Anordnung und auch eine eng
formulierte Bedarfsmedikation des Arztes. Eines jedoch macht den
MDK-Prüfer stutzig. Er weiß, dass die Sedativa innerhalb von 30 Minuten
wirken sollten. Laut Dokumentation wird der Bewohner aber über einen
Zeitraum von jeweils fast zwei Stunden fixiert. Da stellt sich die
Frage: Zeigen die Medikamente beim Bewohner nach einer halben Stunde
keine Wirkung? Oder wurde er einfach sicherheitshalber etwas länger als
notwendig im Gurtsystem belassen?
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Die Einrichtung nutzt die Gurtfixierungen
nicht wie vom Hersteller vorgegeben. Beispiel: Der MDK zieht einen
fixierten Bewohner in die Kontrollgruppe. Bei der Inspektion findet er
zahllose Fehler. Der Pflegebedürftige ist untergewichtig. Die
Handmanschetten sind zu locker. Zudem ist die Schulterhalterung
angerissen und offenkundig unsachgemäß repariert. Das Hauptproblem ist
jedoch, dass die Pflegekräfte Komponenten von zwei unterschiedlichen
Herstellern nutzen. Der Schrittgurt und der Beinbügelgurt sind vom
Anbieter A. Die weiteren Komponenten vom Hersteller B.
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Angesichts der erheblichen Brisanz des Themas
wundert es nicht, dass zahlreiche weitere Mängel mit einer “D-Wertung”
quittiert werden.
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Die Einschätzung der Gefährdung, mit der der
Einsatz der Maßnahmen begründet ist, ist nicht nachvollziehbar.
Beispiel: Der jahrzehntelange Alkoholmissbrauch hat bei Frau Müller zu
einem Korsakow-Syndrom geführt. Just an dem Morgen, an dem der MDK vor
der Tür steht, wird Frau Müller verbal aggressiv. Sie kippt auch ein
Wasserglas um. Frau Müller wird daher für 90 Minuten fixiert, bis sie
sich wieder beruhigt hat. Dieses findet der MDK-Prüfer
unverhältnismäßig. Ein paar unflätige Schimpfworte und ein
verschüttetes Trinkglas rechtfertigen keinen so massiven Eingriff in
die Freiheit eines Menschen. Es bestand keinerlei Gefahr weder für Frau
Müller, noch für Mitbewohner oder für die Pflegekräfte.
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Die Einrichtung muss beachten, dass
Fixierungen im Rahmen der Sturzprophylaxe beim MDK fast durchweg auf
Widerspruch treffen werden. Stürze können zumeist durch andere
Maßnahmen besser vermieden werden, etwa durch ein höhenverstellbares
Bett in Tiefstellung, durch ein geteiltes Bettgitter mit
Ausstiegsmöglichkeit oder durch eine Klingelmatte mit Berührungssensor
vor dem Bett.
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Die Einrichtung gibt an, dass der Einsatz der
durchgehenden Bettseitenteile auf Wunsch des Bewohners erfolgte. Dieser
ist kognitiv nicht beeinträchtigt. Der Pflegebedürftige jedoch gibt an,
dieser Maßnahme nie und nimmer zugestimmt zu haben. Einen schriftlichen
Nachweis dazu gibt es nicht. In einem solchen Fall sitzt die
Einrichtung am kürzeren Hebel. Daher sollte die Zustimmung des
Bewohners stets schriftlich erfolgen. Dazu reicht schon ein kurzer
Eintrag im Berichteblatt, den der Bewohner abzeichnet.
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Die Einrichtung kann keine Begleitung oder
Überwachung einer Gurtfixierung nachweisen. Der MDK verlangt nicht,
dass eine Pflegekraft während der gesamten Fixierung am Bett des
Bewohners sitzt. Sie kann sich durchaus im Zimmer des Bewohners bewegen
oder einen Nebenraum aufsuchen. Wichtig ist nur, dass sie “immer ein
Ohr” auf den Pflegebedürftigen hat. Sie muss also unverzüglich
reagieren können, wenn dieser beispielsweise Schmerzen hat. Und
natürlich muss klar aus der Dokumentation hervorgehen, welcher
Mitarbeiter dafür abgestellt wurde. Noch eine Anmerkung:
Komplikationen, die auf eine fehlende kontinuierliche Überwachung
zurückzuführen sind, führen zu einem hohen Haftungsrisiko auch für die
Pflegekräfte. In den meisten Fällen wird ein Richter eine grobe
Fahrlässigkeit feststellen.
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Man sollte erwarten, dass es eine öffentliche
Abwertung gibt, falls der Prüfer bei einer dauerhaften
freiheitsentziehenden Maßnahme keine Einwilligung, keine richterliche
Genehmigung und keine richterliche Anordnung vorfindet. Das ist nicht
der Fall. Ein solcher Verstoß wird zwar erfasst und an die Kassen
gemeldet, er fließt aber nicht in die Beurteilung ein. Diese
Beobachtung wird also auch nicht in der öffentlichen Berichterstattung
im Internet auftauchen. Das Thema ist offensichtlich zu heikel. Der
Prüfer soll davor geschützt werden, in Vorgänge mit strafrechtlicher
Relevanz verwickelt zu werden. Natürlich ist davon auszugehen, dass die
Heimaufsicht zeitnah von diesen Verdachtsfällen erfahren wird.
Tipps:
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Beim Umgang mit freiheitsentziehenden Maßnahmen
erlauben sich erstaunlich viele Einrichtungen einen laxen Umgang. Das
mag daran liegen, dass der Medizinische Dienst hier bislang nur
eingeschränkte Prüfbefugnisse hatte. Der neue Fragenkatalog ist viel
strikter formuliert. Daher ist damit zu rechnen, dass der MDK hier sehr
genau nach Fehlern suchen wird. Pflegeheime sollten die internen
Abläufe zeitnah umstellen und ggf. Wissenslücken durch Nachschulungen
beseitigen.
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