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Indikator "Unbeabsichtigter Gewichtsverlust"

Der Spagat zwischen leichter Anwendbarkeit und wissenschaftlicher Aussagekraft zieht sich durch den gesamten neuen Pflege-TÜV. So auch bei der Kennzahl zum Gewichtsverlust. Der Indikator ist in vielerlei Hinsicht eine Kompromisslösung.

Indikator “Unbeabsichtigter Gewichtsverlust”


  • Der natürliche Alterungsprozess eines Menschen führt fast immer zu einer moderaten Gewichtsabnahme. Insbesondere nach dem Heimeinzug kommt es jedoch bei vielen Bewohnern zu einem erheblichen Verlust an Körpermasse. Auf diese Entwicklung sollten Pflegekräfte frühzeitig reagieren. Die gesundheitlichen Schäden durch Mangelernährung lassen sich im Nachhinein zumeist nicht mehr kompensieren.
  • Senioren, die noch in der eigenen Häuslichkeit leben, sind zu 10 bis 20 Prozent von Mangel- und Unterernährung betroffen. In Alten- und Pflegeheimen steigt diese Quote auf 40 bis 60 Prozent.
  • Verschiedenste Faktoren führen dazu, dass das Risiko eines ungewollten Gewichtsverlustes im Alter steigt. Etwa:
    • Die motorischen Fähigkeiten des Bewohners schwinden. Dieser ist nicht mehr in der Lage, die Mahlzeit mit Messer und Gabel in mundgerechte Portionen zu schneiden. Viele Senioren scheitern auch daran, die Speisen zum Mund zu führen.
    • Hinzu kommen Schluckstörungen. Der Bewohner kann die Portionen nicht mehr sicher schlucken. Die Aspiration von Fremdkörpern in die Luftröhre führt oft zu einer Pneumonie. Um dieses zu vermeiden, reduziert der Betroffene die Nahrungszufuhr.
    • Bösartige Tumorerkrankungen sowie Unruhezustände mit Laufzwang steigern den Kalorienbedarf erheblich.
  • Die Mehrzahl dieser Probleme kann durch pflegerische oder durch medizinische Interventionen zumindest teilweise kompensiert werden. Dazu zählen etwa die Unterstützung einer ärztlichen Therapie, pflegerische Hilfeleistungen sowie eine dem Bedarf angepasste Kalorienzufuhr. Wenn also in einer Einrichtung ungewöhnlich viele Senioren ungeplant an Körpermasse verlieren, ist dieses ein Indiz für eine mangelhafte pflegerische Versorgung. Dieses wird jetzt durch einen Qualitätsindikator erfasst.
Was wird gemessen?
  • Die Kennzahl misst den Anteil der Bewohner mit einer unbeabsichtigten Gewichtsabnahme von mehr als 10 Prozent des Körpergewichts in den vergangenen sechs Monaten.
  • Der Indikator wird für zwei Gruppen erhoben. Einen Block bilden Senioren, die nach Wertung des zweiten BI‐Moduls keine oder nur geringe kognitive Einbußen aufweisen. Die andere Gruppe besteht aus Bewohnern, deren demenzielle Beeinträchtigung fortgeschrittener ist. Diese Trennung ist sinnvoll, da altersverwirrte Menschen deutlich häufiger von Mangelernährung betroffen sind.
  • Wenn Faktoren vorliegen, die sich dem Einfluss der Einrichtung entziehen, verschlechtert eine Gewichtsabnahme den Indikator ggf. nicht. Dazu zählen Tumorerkrankungen, Amputationen, medikamentöse Ausschwemmungen oder ärztlich angeordnete oder ärztlich genehmigte Diäten.
  • Verliert der Bewohner während eines Krankenhausaufenthalts erheblich an Körpermasse, ist dieses ebenfalls nicht dem Pflegeheim zuzurechnen. Natürlich sollte die Einrichtung jeden Bewohner zeitnah nach der Wiederaufnahme auf eine Waage stellen.
  • Außerdem kann die Indikatorermittlung bereits daran scheitern, dass der Bewohner auf Anweisung des Arztes oder der Betreuer nicht gewogen werden darf. Oder wenn er aus eigenem Entschluss nicht gewogen werden will. Die Senioren werden also in keinem Fall zwangsweise gewogen, um Daten für den Indikator zu erhalten. Allerdings sollte die Verweigerung der Gewichtsermittlung durch einen Eintrag in der Dokumentation belegbar sein. Bei Nutzern des neuen Strukturmodells / SIS kann dieser Vermerk auch in der Grundbotschaft erfolgen.
    • Eintrag: Frau Juhnke möchte nicht gewogen werden. Sie sagt zu uns: “Mein Gewicht geht nur mich etwas an!”
  • Andere häufige Faktoren für einen Gewichtsverlust spielen keine Rolle. Wenn der Bewohner etwa aufgrund von Depressionen, Infekten, Appetitlosigkeit oder Krankheiten des Gastrointestinaltraktes an Körpermasse verliert, wird dieses der Einrichtung zugerechnet. Dieses gilt auch für Stress, etwa als Folge des Heimeinzugs, Nahrungsmittelunverträglichkeit, Diabetes, Schilddrüsenüberfunktion, Polypharmazie, Alkoholmissbrauch oder Drogenkonsum.
Was wird nicht gemessen?
  • Der Indikator ist nicht geeignet, um eine Häufung von Mangelernährungen festzustellen. Natürlich führt eine Mangelernährung i. d. R. zu einem ungewollten Gewichtsverlust. Aber eben nicht immer. Nicht jeder ungewollte Gewichtsverlust ist das Resultat von Mangelernährung. Und gleichzeitig gibt es viele Mangelernährungszustände, in deren Verlauf niemals ein so großer Gewichtsverlust auftrat.
  • Viele Einrichtungen nutzen das BMI-System (“Body-Mass-Index”), um den Ernährungszustand eines Bewohners zu beschreiben. Der Indikator hingegen basiert auf einem prozentualen Gewichtsverlust mit einem recht willkürlichen Grenzwert von 10 Prozent. Die Körpergröße wird im Erhebungsinstrument zwar abgefragt, in den Indikator aber nicht eingerechnet. Das kann zu paradoxen Resultaten führen.
    • Wenn ein adipöser Bewohner zehn Prozent seines Körpergewichts verliert, ist das in der Mehrzahl der Fälle eine erfreuliche Entwicklung; ganz egal, ob dieses gewollt oder nicht gewollt ist.
    • Ein kachektischer Bewohner hingegen gerät ggf. schon bei einem Gewichtsverlust von nur fünf Prozent in einen kritischen Zustand.
Bedeutung für die Pflege
  • In vielen Fällen ist tatsächlich davon auszugehen, dass die unangepasste Pflege und Versorgung den Gewichtsverlust zumindest begünstigt hat.
    • Frau Schweiger hat sich eine eitrige Entzündung eines Backenzahns zugezogen. Aus Angst vor dem Zahnarztbesuch verschweigt sie dieses den Pflegekräften. Aufgrund der Schmerzbelastung ist die Bewohnerin nicht mehr in der Lage, feste Nahrung zu kauen. Frau Schweiger verlegt sich daher auf Suppen, Joghurt und Quark. Von ihren ehemals 70 Kilogramm hat sie innerhalb eines Vierteljahres 10 Kilogramm verloren. Das hätte eine aufmerksame Bezugspflegekraft frühzeitig bemerken müssen.
    • Herr Ferres hat einen Schlaganfall erlitten, von dessen Folgen er sich nur teilweise erholt hat. Das zentrale Problem besteht aktuell in einer erheblichen Dysphagie. Wenn der Bewohner Speisen zu sich nimmt, verschluckt er sich häufig. In mehreren Fällen kam es zuletzt zu Erstickungsanfällen, die Herrn Ferres zutiefst verunsicherten. Den Genuss am Essen hat er deshalb verloren. Sein Körpergewicht reduziert sich von 110 Kilogramm auf 90 Kilogramm. Die Maßnahmen der Pflegekräfte und der Ergotherapie waren bislang nicht erfolgreich.
  • Häufig ist der Gewichtsverlust geplant und medizinisch sinnvoll. In diesem Fall kann der Einrichtung kein Vorwurf gemacht werden.
    • Frau Bleibtreu lebte nach dem Tod ihres Manns zuletzt allein in der Wohnung. Die Trauer und die Einsamkeit kompensierte sie vornehmlich durch den Konsum von Süß- und Backwaren. Frau Bleibtreu entwickelte eine erhebliche Adipositas. Nach dem Umzug in das Pflegeheim beschloss sie gemeinsam mit ihrem Hausarzt eine Ernährungsumstellung mit dem Ziel einer Gewichtsreduktion. Durch eine erhebliche Willensleistung gelang es ihr, das Gewicht von 95 Kilogramm beim Heimeinzug auf 75 Kilogramm nach fünf Monaten zu senken. Der Arzt ist mit dieser Entwicklung sehr zufrieden.
    • Herr Brandauer gilt in der Einrichtung als Genussmensch, der einen großen Teil seines Taschengelds mit Freude in Süßwaren investierte. Er wog zuletzt fast 120 Kilogramm. Während des Fernsehens erlitt er einen Herzinfarkt, den er nur dank Wiederbelebung durch den Sanitäter überlebte. Im Krankenhaus kam es zu einer weiteren Ischämie und zuletzt zu einer riskanten Bypass-Operation. Als er fünfeinhalb Monate später aus dem Krankenhaus und der Rehabilitationseinrichtung zurück in das Seniorenheim gefahren wird, erkennt ihn selbst die Bezugspflegekraft kaum wieder. Er hat fast 40 Kilogramm abgenommen und wiegt nur noch 80 Kilogramm. Dieser Gewichtsverlust verschlechtert die Kennzahl nicht, da die Reduktion außerhalb des Pflegeheims erfolgte.
    • Frau Buck lebt im Pflegeheim, weil ihre Schwiegertochter mit der Versorgung überfordert war. Die Bewohnerin ist nahezu durchweg unkooperativ. Am Ausfüllen des Biografiebogens hat sie sich nicht beteiligt. Das Messen des Blutdrucks, des Blutzuckers und eben auch des Körpergewichts verweigert sie mit beharrlicher Konsequenz. Ob sie Gewicht verliert oder zulegt, können die Pflegekräfte nur abschätzen.
Grenzfälle
  • Es ist nicht verwunderlich, dass das Thema Mangelernährung im neuen Indikatorensystem berücksichtigt wird. Immerhin sorgten die Fernseh- und Zeitungsberichte über abgemagerte Senioren dafür, dass der Pflege-TÜV jetzt reformiert wird. In Kauf genommen wurde dabei, dass der Themenbereich für eine einzige Kennzahl vielleicht doch zu komplex ist. Die nächsten Jahre werden zeigen, wie die MDK-Prüfer mit den Grauzonen dieser Thematik umgehen. Pflegeeinrichtungen achten besser darauf, dass ihnen nicht die Verantwortung für Gewichtsverluste zugeschoben wird, die sie tatsächlich nicht beeinflussen können.
    • Herr Berben hat ein Auge auf Frau Jaenicke geworfen, die unlängst in den Wohnbereich umgezogen ist. Das Problem: Er fühlt sich “viel zu fett”. Tatsächlich ist der 80-Jährige mit einer Körpergröße von 1,83 Metern bei 97 Kilogramm durchaus noch im Normbereich. Dennoch verkündet er, dass er mindestens 15 Kilogramm abspecken möchte. Der Bewohner setzt konsequent auf “FDH” oder “Friss die Hälfte”. Die Bezugspflegekraft rät strikt davon ab. Sie informiert auch den Hausarzt, der Herrn Berben ebenfalls ins Gewissen redet. Ohne Erfolg. Nach vier Monaten hat sich der Bewohner auf 77 Kilogramm runtergehungert und flirtet eifrig mit Frau Jaenicke. Der Qualitätsindikator ist trotzdem beeinträchtigt. Ausweislich der Pflegedokumentation war die Diät weder ärztlich angeordnet noch ärztlich genehmigt.
  • Hinzu kommt das Problem von Fehlanreizen. Durch die Zufuhr kalorienreicher Nahrung kann der Qualitätsindikator zwar gesichert werden, dieses aber auf Kosten einer gesunden und ausgewogenen Ernährung.
    • Frau Atzorn hat ihren geliebten Hund verloren. In der Trauer vernachlässigt sie die Nahrungsaufnahme. Dieses fällt auch der Bezugspflegekraft auf, die fortan die Bewohnerin wöchentlich wiegt und den Gewichtsverlust verfolgt. Gutes Zureden hilft wenig. Innerhalb von vier Monaten hat Frau Atzorn bereits fünf Kilo verloren. Der kritische Grenzwert von zehn Prozent Gewichtsverlust rückt näher. Die Pflegedienstleitung ist ehrgeizig und macht sich Sorgen um den Indikator. Sie kennt aber eine effektive, wenn auch ungesunde “Problemlösung”. Frau Atzorn hat eine Schwäche für Haselnüsse mit Schokoüberzug. 1,39 Euro pro 200-Gramm-Packung vom Discounter. Dazu 1200 Kilokalorien. Fortan steht immer eine Packung auf dem Fernsehtisch. Frau Atzorn ist zwar noch immer traurig, bedient sich aber gerne und stabilisiert dadurch ihr Gewicht. Ob das mit dem Indikator so gedacht war?



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