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Qualitätsindikator "Dekubitusentstehung"
In
vielen Pflegeheimen existiert die Dekubitusprophylaxe nur auf dem
Papier. Selbst Einrichtungen, in denen jeder fünfte Bewohner von
Druckgeschwüren betroffen ist, räumten Bestnoten bei der
Transparenzprüfung ab. Bislang sah der MDK diesem Treiben machtlos zu. Jetzt nicht mehr.
Qualitätsindikator "Dekubitusentstehung"
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Rein technisch betrachtet, ist der Indikator
“Dekubitusentstehung” keine komplexe Angelegenheit. Es sind nur wenige
Daten notwendig, die allesamt bereits in der Dokumentation gelistet und
sofort abrufbar sein sollten. Relevante Ausschlusskriterien gibt es
nicht. Abgrenzungsprobleme oder Ermessensentscheidungen bleiben die
Ausnahme. Folglich dauert das Ausfüllen der maximal acht Fragepunkte in
der Eingabemaske kaum länger als fünf Minuten.
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Gleichwohl ist das Kriterium “Druckgeschwüre”
von besonderer Bedeutung. In der öffentlichen Wahrnehmung sind diese
Wunden ein Sinnbild für pflegerisches Versagen. Medienberichte über
wundgelegene Senioren in “Horrorheimen” mit der Pflegenote 1,0 waren
maßgeblich dafür verantwortlich, dass die bisherige Transparenzprüfung
jetzt als Totalschaden entsorgt wird.
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Bei der Neuentwicklung der Qualitätsprüfung
samt Indikatorenmodell war schnell klar, dass Druckgeschwüre mit einer
eigenen Kennzahl erfasst werden. Dabei eignen sich diese Hautdefekte
nur eingeschränkt als Messgröße für Pflegequalität. Der pflegerische
Einfluss auf die Entwicklung von Druckgeschwüren ist begrenzt.
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Die Überleitung aus der häuslichen oder aus der
klinischen Versorgung in die stationäre Langzeitpflege erfolgt heute zu
einem späten Zeitpunkt. Viele Betroffene sind multimorbid,
mangelernährt, dehydriert und erheblich geschwächt. Selbst wenn
Pflegekräfte sofort das volle Arsenal der Dekubitusprophylaxe
auffahren, lassen sich diese Wunden oftmals nicht verhindern.
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Hinzu kommt die oftmals unzureichende
Kooperationsbereitschaft vieler Bewohner. Die Rückenlage und die
90-Grad-Seitenlagerung sind vielfach die bevorzugten Körperhaltungen im
Bett. Auf lange Sicht leidet darunter jedoch das Gewebe. Für eine
30-Grad-Lagerung oder gar für eine Bauchlagerung lassen sich nur wenige
Senioren begeistern. Sobald die Pflegekraft nach dem Umlagern das
Zimmer verlässt, drehen sich viele Bewohner eigenständig in die viel
bequemeren Positionen zurück und konterkarieren damit die angestrebte
Druckentlastung.
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Und da wären noch die Probleme, die sich aus
der Bewohnerstruktur ergeben. Die Einteilung in zwei Risikogruppen
abhängig von der Mobilität federt diesen Effekt etwas ab.
Ungerechtigkeiten aber bleiben. Das werden Pflegeheime mit einer
ungünstigen Zielgruppe schnell merken. Dazu zählen etwa Einrichtungen
für Korsakow-Patienten. Deren Bewohner sind mitunter noch recht agil,
weisen dafür aber so ziemlich jeden anderen Risikofaktor für
Druckgeschwüre auf.
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Zuletzt wenden sich gar die Gesetze der
mathematischen Statistik gegen die Pflegeheime. Druckgeschwüre sind
nämlich erstaunlich selten. Also zumindest jene Wunden, die über die
Kennzahl erfasst werden. Die meisten Druckgeschwüre sind “Mitbringsel”
und stammen aus dem Krankenhaus oder aus der häuslichen Versorgung.
Diese Hautschäden haben für die Kennzahlenermittlung aber keinerlei
Bedeutung. Es zählen nur die Dekubiti, die im Pflegeheim entstanden
sind. In der Mehrzahl der Pflegeheime finden sich kaum mehr als zwei
oder drei davon betroffene Bewohner. Geringe Fallzahlen jedoch
reagieren empfindlich auf statistische Ausreißer. Wenn also die
“Dekubitus-Lotterie” einem Pflegeheim nur ein oder zwei weitere
Druckgeschwüre beschert, dreht die Kennzahl in den tiefroten Bereich.
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Kurzum: Die Vermeidung eines Dekubitus hängt ebenso vom Zufall ab wie vom pflegerischen Geschick der Mitarbeiter.
Was wird gemessen?
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Der Indikator misst die Anzahl der
Druckgeschwüre, die innerhalb der letzten sechs Monate in der
Einrichtung entstanden. Hautdefekte im frühen Anfangsstadium zählen
nicht. Die Kennzahl wird dabei separat für zwei Gruppen ermittelt:
Einmal Bewohner, die beim Positionswechsel im Bett keine oder nur
geringe Einbußen der Mobilität aufweisen. Die zweite Gruppe bilden
Senioren, die hier überwiegend oder komplett unselbstständig sind.
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Für die Einordnung der Druckgeschwüre werden “Kategorien” oder “Stadien” genutzt. Also:
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Kategorie eins: Reversible Hautrötungen, eventuell mit Ödembildung, Verhärtung oder Überwärmung.
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Kategorie zwei: Teilverlust der Haut.
Epidermis bis hin zu Anteilen der Dermis (Korium) ist geschädigt. Der
Druckschaden ist oberflächlich und kann sich klinisch als Blase,
Hautabschürfung oder flaches Geschwür darstellen.
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Kategorie drei: Verlust aller Hautschichten
und Schädigung oder Nekrose des subkutanen Gewebes, die bis auf die
darunterliegende Faszie reichen kann. Der Dekubitus zeigt sich klinisch
als tiefes, offenes Geschwür.
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Kategorie vier: Verlust aller Hautschichten
mit ausgedehnter Zerstörung, Gewebsnekrose oder Schädigung von Muskeln,
Knochen oder unterstützenden Strukturen (z.B. Sehnen, Bändern oder
Gelenkkapseln).
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Zusätzlich: Unbekannte Kategorie.
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Gezählt werden alle Druckgeschwüre ab der
Kategorie zwei, die in den vergangenen sechs Monaten beim Bewohner
bestanden oder bis zum Erfassungszeitpunkt bestehen. Dieses gilt auch,
wenn der Zeitpunkt der Entstehung länger als sechs Monate zurückliegt,
die Wunde aber noch nicht abgeheilt war. Ein im Krankenhaus
entstandener Dekubitus wird bei der Berechnung nicht mitgezählt.
Was kann schiefgehen?
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Die bisherige Transparenzprüfung bildet primär
Strukturkriterien ab, also etwa die bloße Existenz von Pflegestandards,
die Erfassung des individuellen Dekubitusrisikos oder eine lückenlose
Wunddokumentation. Eine sorgfältige Aktenführung wurde also bislang mit
einer guten Pflegenote belohnt. Die Anzahl der tatsächlich auftretenden
Druckgeschwüre hingegen war nicht prüfungsrelevant.
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Das neue Indikatorenmodell ist eine
180-Grad-Wende. Für die Bewertung zählt jetzt nur die Gesamtsumme der
Dekubiti innerhalb der Bewohnerschaft. Diese Daten meldet die
Einrichtung gemeinsam mit weiteren Informationen halbjährlich an die
Auswertungsstelle. Dem MDK fällt die Aufgabe zu, stichprobenartig die
Richtigkeit der Angaben zu prüfen. Es ist wohl anzunehmen, dass viele
Prüfer im Bereich der Druckgeschwüre besonders strikt nach
Schwachstellen suchen.
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Findet der MDK Mängel, so prüft er zunächst, ob
und in welchem Umfang sich diese überhaupt auf die Kennzahlenberechnung
auswirken. Bei kleineren Flüchtigkeitsfehlern ohne Folgen für die
Qualitätsbeurteilung steht der Beratungsauftrag im Vordergrund. Der
Prüfer wird also Maßnahmen empfehlen, um solche Fehlgriffe zukünftig zu
vermeiden; also etwa Nachschulungen oder organisatorische Änderungen.
Deutlich interessanter sind Defizite, die relevante Folgen auf die
Kennzahlen haben. Hier steht natürlich schnell der Verdacht im Raum,
dass die Einrichtung die Daten frisiert und sich eine bessere Bewertung
erschleichen will.
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Beginnen wir mit den minder schweren Mängeln:
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Frau Seeler hat sich vor einigen Wochen einen
Dekubitus am Kreuzbein zugezogen. Es liegt ein offenes Geschwür vor. Im
Wundbereich findet sich nekrotisiertes Gewebe. Die Wunde müsste
eigentlich als Dekubitus der Kategorie drei erfasst sein. Die
Bezugspflegekraft hingegen vermerkt nur eine Kategorie zwei. Der MDK
bemerkt diesen Fehler bei seiner Stichprobe sofort. Dennoch ist der
Mangel nur von nachrangiger Bedeutung, da er die Kennzahlenbildung
nicht verfälscht. Jeder fortgeschrittene Dekubitus zählt. Ob nun eine
Kategorie zwei oder drei vorliegt, ist egal.
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Bei Frau Klose wurde im Januar ein
Druckgeschwür an der Ferse festgestellt. Da sich bereits Blasen
bildeten, hat die Wundbeauftragte eine Kategorie zwei notiert. Dank
sofortiger Freilagerung heilte die Wunde binnen dreier Wochen wieder
ab. Im November des gleichen Jahres muss die Pflegedienstleitung nun
erstmals die Daten an die Auswertungsstelle übermitteln. Im Stress
verwechselt die PDL ein paar Infos. Sie meldet, dass das Druckgeschwür
erst im März gefunden wurde. Bei der Stichprobe befördert ein simpler
Datenabgleich mit der Wunddokumentation diesen Fehler ans Tageslicht.
Der MDK ist dennoch nachsichtig. Beide Daten, der Januar wie der März,
liegen vor dem Sechs-Monats-Zeitraum für die Ergebniserfassung. Das
Druckgeschwür hat - so oder so - keine Relevanz für die aktuelle
Zählung.
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Mitunter zeigt der MDK auch bei solchen Fehlern
Kulanz, die die Kennzahlen beeinträchtigen. Natürlich nur dann, wenn
das zulasten der Einrichtung geschieht. Das Pflegeheim nimmt also
Druckgeschwüre auf seine Kappe, die es tatsächlich gar nicht zu
verantworten hat oder die im angegebenen Ausmaß nicht existieren.
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Die Pflegekraft Frau Rahn bringt leider
mitunter die Einteilung der Dekubitus-Kategorien durcheinander. Auch
den Fingerdrucktest beherrscht sie nur unzureichend. Normalerweise
würde die Pflegedienstleitung hier selbst noch einmal einen Blick auf
die “Wunde” werfen. Aber die PDL fiel krankheitsbedingt für fünf Wochen
aus. Und so wurden in gleich zwei Fällen Druckgeschwüre der Kategorie
eins fälschlicherweise als Kategorie zwei eingetragen. Da sich die
Einrichtung damit nur selbst geschadet hat, dürfte dem MDK dieser
Fehler herzhaft egal sein.
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Herr Sonntag kehrt nach mehrwöchigem
Krankenhausaufenthalt in die Einrichtung zurück. Neben einer
MRSA-Besiedelung bringt er auch einen Dekubitus der Kategorie zwei mit.
Dieser wurde von seiner Bezugspflegekraft auch sofort bemerkt und
pflichtbewusst in der Dokumentation vermerkt. Leider hat die
Pflegedienstleitung bei der Datenübermittlung diesen Eintrag übersehen.
Sie gibt fälschlich an, dass der Dekubitus in der Einrichtung
entstanden wäre. Das Druckgeschwür verschlechtert also unnötigerweise
den Indikator des Pflegeheims. Auch für solche “Eigentore” wird sich
der MDK nur am Rande interessieren.
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Ganz anders ist die Lage, wenn Fehler dazu führen, dass sich der Indikator verbessert.
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Im städtischen Pflegeheim herrscht
Personalmangel. Wichtige Maßnahmen zur Dekubitusprophylaxe
unterblieben. Sowohl Herr Overrath, Frau Köpke und auch Herr Briegel
haben sich Druckgeschwüre zugezogen. Die neue Pflegedienstleitung
möchte jedoch schnell gute Ergebnisse präsentieren. Sie lässt die
Wunden als Kategorie eins eintragen, damit sie die Kennzahlen nicht
verschlechtern. Kurz nach der Datenübermittlung meldet sich dummerweise
der MDK zur Kontrolle an. Die drei Bewohner kommen in die Stichprobe.
Der MDK findet Druckgeschwüre der Kategorie zwei und drei - und wittert
Betrug.
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Herr Förster hat sich im Februar einen
Dekubitus der Kategorie zwei zugezogen. Die Behandlung zog sich über
den ganzen Frühling hin. Erst im Juni wurde die Kategorie eins
erreicht. Im Juli heilte die Wunde vollständig aus. Das Druckgeschwür
würde also bei der Ergebniserfassung im Oktober mitzählen. Die
Pflegedienstleitung gibt jedoch an, dass die Wunde bereits im März
abgeheilt wäre. Die Angabe passt jedoch nicht zur Wunddokumentation. Im
Gespräch mit dem MDK gibt Herr Förster an, dass die Wunde noch im
Frühsommer vorhanden war.
Fazit:
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Der Indikator zur Dekubitusentstehung wird
zweifellos interessante Ergebnisse liefern. Die Spreizung innerhalb der
Pflegeheime ist enorm. Die bisherigen Studien zeigen, dass in gut
geführten Pflegeheimen nur vier Dekubitusfälle pro 100 Bewohner
auftreten. In Häusern mit schlechter Qualität steigt dieser Wert um das
Drei- oder Vierfache. Sobald die ersten bundesweiten Vergleichsdaten
des neuen Pflege-TÜV öffentlich einsehbar sind, wird es in vielen
Einrichtungen unangenehme Diskussionen geben.
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Die optimale Strategie zur Optimierung des Indikators besteht aus mehreren Schritten:
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Der erste Schritt ist eine Banalität. Die
Zahl der Druckgeschwüre lässt sich durch gut geschultes Personal und
durch geregelte Abläufe senken. Das A und O ist natürlich eine
fundierte Dekubitusprophylaxe, also Lagerungen, Hautpflege, gesunde
Ernährung und eine gute Flüssigkeitsversorgung. Berechnet werden
sowieso nur Druckgeschwüre ab der Kategorie zwei. Wenn also Dekubiti
der Kategorie eins rechtzeitig erkannt und behandelt werden, ist die
Kennzahl nicht in Gefahr.
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Der zweite Schritt ist schon diffiziler. Die
Anzahl der vorhandenen Druckgeschwüre ist zunächst nur ein Bruttowert,
der sich Schritt für Schritt reduzieren lässt. Die Einrichtung muss
also konsequent darauf achten, dass sie sich keine Dekubiti unterjubeln
lässt, die tatsächlich im Krankenhaus oder in der häuslichen Versorgung
entstanden sind. Außerdem muss ein ausgeheilter Dekubitus zeitnah als
solcher vermerkt sein, damit er nicht mehr in die kommende
Indikatorenerfassung rutscht.
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Die Klassifizierung von Druckgeschwüren muss
stets “Chefsache” sein. Oder doch zumindest Aufgabe einer
Wundbeauftragten oder des Arztes. Ein Dekubitus der Kategorien zwei und
höher wird erst dann als solcher in der Dokumentation vermerkt, wenn
die Schwere der Wunde tatsächlich feststeht. Und nicht schon dann, wenn
ein unerfahrener Berufseinsteiger kleine Bläschen an einer geröteten
Ferse zu sehen glaubt.
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Die Qualifizierung und Sensibilisierung der
Pflegekräfte an der Basis wird insbesondere entscheidend, sobald die
eigene Pflegedokumentation direkt über eine digitale Schnittstelle mit
der Auswertungsstelle kommuniziert. Die Daten fließen dann auf
Knopfdruck, ohne dass die Pflegedienstleitung noch einmal einen
prüfenden Blick darauf wirft und unsinnige Angaben hinterfragt.
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