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Qualitätsindikator "Durchführung eines Integrationsgesprächs"
Einige
Kriterien des neuen Indikatorenmodells sind so einfach zu erfüllen,
dass Pflegeteams sie vorschnell als sichere Punktelieferanten
verbuchen. Ein Trugschluss, wie wir am Beispiel der
Integrationsgespräche aufzeigen.
Qualitätsindikator "Durchführung eines Integrationsgesprächs"
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Der Umzug in die stationäre Langzeitpflege ist
nur selten ein gewünschtes und langfristig geplantes Ereignis. In der
Mehrzahl der Fälle wechseln Senioren mehr oder minder überstürzt in
Pflegeheime. Dieses geschieht häufig als Folge einer plötzlichen
Gesundheitsverschlechterung, etwa nach einem Schlaganfall. Eine
ambulante oder familiäre Versorgung wird plötzlich unmöglich. Für die
Betroffenen ist der Wechsel daher zumeist ein einschneidendes Ereignis.
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Die neue Prüfrichtlinie erwartet folglich von
Pflegeheimen, dass sie innerhalb von acht Wochen nach dem Heimeinzug
ein sog. “Integrationsgespräch” durchführen. In dem Gespräch kann
beispielsweise erfragt werden, ob der Bewohner zufrieden mit der
Tagesstrukturierung ist oder ob er spezielle Wünsche im Hinblick auf
die pflegerische Versorgung hat. Die korrekte Durchführung der
Integrationsgespräche wird mittels eines Qualitätsindikators gemessen
und überwacht.
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Auf den ersten Blick ist das Thema dieser
Kennzahl etwas überraschend. Alle anderen Qualitätsindikatoren
behandeln die Schwergewichte unter den Pflegeproblemen. Also jene
Missstände, die seit Jahren die öffentliche Diskussion über die
Pflegemisere bestimmen: Mangelernährung, Druckgeschwüre, unnötige
Fixierungen oder auch ignorierte Schmerzzustände. Aber hat jemals ein
Gesundheitspolitiker vor Fernsehkameras darüber geklagt, dass in
deutschen Seniorenheimen zu wenig Integrationsgespräche geführt werden?
So oder so: Diese Kennzahl ist im neuen Pflege-TÜV bestenfalls ein
“C-Promi”.
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Aber nicht nur die inhaltliche Ausrichtung ist
banal. Die Umsetzung ist es auch. Um die Vorgaben zu erfüllen, brauchen
Pflegeheime lediglich ein passendes Formular und 30 Minuten Zeit. Sehr
praktisch ist auch ein Kalender, in den für alle neuen Bewohner gleich
ein Termin für eine solche Unterredung eingetragen wird. Es ist also
durchaus davon auszugehen, dass nahezu jedes halbwegs gut organisierte
Pflegeteam mit diesem Kriterium keine Probleme haben sollte.
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Ein Selbstläufer ist dieses Kriterium trotzdem
nicht. Dafür sorgt schon die grundsätzliche Konzeption der Indikatoren.
Dieses Kennzahlensystem kennt kein “gut” oder “schlecht”. Es gibt nur
“besser als der Durchschnitt” oder “schlechter als der Durchschnitt”.
Nehmen wir an, sie laufen die 100 Meter in 11 Sekunden. Ein guter Wert.
Für die Kreismeisterschaft reicht das locker. Bei den Olympischen
Spielen jedoch gehen Sie damit sang- und klanglos unter. Wer hier ganz
vorne mitlaufen will, muss die Strecke in 9,5 Sekunden schaffen.
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Genauso wird es vielen Pflegeheimen ergehen, in
denen das Integrationsgespräch eigentlich zum Pflichtprogramm gehört,
wo es aber manchmal im täglichen Trubel vergessen wird. Schon ein oder
zwei Ausfälle reichen, um das Pflegeheim unter den Bundesdurchschnitt
zu drücken. Die Einrichtung kassiert dann völlig unerwartet eine
schlechte Bewertung in der öffentlichen Qualitätsdarstellung. Bei
Integrationsgesprächen ist “fast immer” schlichtweg nicht genug. Das
Gespräch muss “immer und ohne Ausnahme” erfolgen.
Was wird gemessen?
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Der Indikator erfasst den Anteil der Bewohner,
mit denen ein Integrationsgespräch durchgeführt wurde. Dieser Dialog
muss ausgewertet und dokumentiert werden. Das Gespräch hat frühestens
sieben Tage und spätestens acht Wochen nach dem Einzug zu erfolgen.
Einbezogen werden nur solche Bewohner, die in den letzten sechs Monaten
eingezogenen sind. Dieses gilt auch für Senioren, die ohne
Unterbrechung direkt aus der Kurzzeit- in die Langzeitpflege wechselten.
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Ein Integrationsgespräch im Sinne des
Prüfkatalogs muss geplant und ausdrücklich zu diesem Zweck geführt
werden. Gespräche zur Eingewöhnung, die sich zufällig etwa während der
Grundpflege ergeben, sind damit nicht gemeint. Auch eine schriftliche
Befragung der Bewohner wird dem MDK nicht ausreichen.
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Dieser Indikator richtet sich nur an eine
vergleichsweise kleine Gruppe. Ein Großteil der Bewohner ist von der
Ermittlung ausgeschlossen:
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Bewohner, die schon länger als sechs Monate in der Einrichtung leben.
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Kognitiv beeinträchtigte Bewohner, für die keine Bezugspersonen verfügbar sind.
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Bewohner, die innerhalb der ersten acht Wochen nach dem Einzug in einem Krankenhaus behandelt wurden.
Mögliche Konflikte:
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Schon eine falsche Datumsangabe des
Integrationsgesprächs wird der MDK als erhebliche Beeinträchtigung der
Qualitätsbeurteilung werten.
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Frau Boerne ist 80 Jahre alt und zog im
Januar in das Pflegeheim. Ihre erste Bezugspflegekraft kündigte nur
wenige Tage später, ohne dass sie ein Integrationsgespräch mit Frau
Boerne geführt hätte. Es dauert lange, bis mit Frau Schenk ein Ersatz
eingestellt wird. Die neue Bezugspflegekraft nimmt ihre Tätigkeit erst
im April auf und führt kurz darauf auch das Integrationsgespräch. Die
Frist von acht Wochen ist da bereits verstrichen. Die Pflegekraft
datiert das Protokoll auf März vor. Dieses bleibt vom MDK nicht
unbemerkt, da Frau Schenk zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht in der
Einrichtung arbeitete und somit das Gespräch nicht hätte führen können.
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Bewohner dürfen nicht vorschnell einer Ausschlussgruppe zugerechnet werden.
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Herr Thiel lebt seit vier Wochen im
Pflegeheim. Er leidet an einer fortgeschrittenen Alzheimer-Demenz. Er
ist situativ und zur Person desorientiert. Ein zielgerichteter Dialog
mit ihm ist nicht möglich. Die Bezugspflegekraft sieht daher davon ab,
mit ihm ein Integrationsgespräch zu führen. Nach Ansicht des MDK hätte
diese Unterredung dennoch stattfinden müssen. Herr Thiel hat einen Sohn
und eine Schwiegertochter, die ihn regelmäßig besuchen. Diese können
als Vertrauenspersonen des Bewohners fungieren.
Anmerkung:
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Der Indikator wird sicherlich dafür sorgen,
dass die allermeisten Pflegeheime jetzt konsequent
Integrationsgespräche durchführen. Ob die Bewohner davon profitieren,
steht auf einem anderen Blatt. Zumeist werden die Bezugspflegekräfte
stur den Fragenkatalog durcharbeiten, den Bewohner alles abzeichnen
lassen und das Protokoll in den Tiefen der Dokumentationsmappe
versenken. Aktenführung für den MDK? Das kennen wir noch von den alten
Pflegenoten.
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In den meisten Einrichtungen wird die Pflege-
und Maßnahmenplanung gemeinsam mit dem Bewohner und mit seinen
Angehörigen erstellt und regelmäßig aktualisiert. Dabei werden
zwangsläufig auch Themen aus dem Bereich der Eingewöhnung diskutiert.
Wozu braucht es dann noch ein zusätzliches Integrationsgespräch?
Welchen Nutzen hat eine solche Unterredung? Wenn die Durchführung eines
Prozesses angeblich so wichtig ist, dass dieses mit einem
Qualitätsindikator abgesichert wird, sollten die Vorteile etwa mittels
Studien belegt sein. Die wissenschaftliche Datenbasis dafür ist
jedenfalls recht dünn.
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