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Standard
"Gesprächsorientierte
Biografiearbeit"
Warum
will Herr Maier nicht baden? Warum hat Frau Schulze panische Angst vor
männlichem Pflegepersonal? Viele Gewohnheiten, Vorlieben und
Empfindlichkeiten basieren auf einschneidenden Lebenserfahrungen. Ein
Effekt, der durch eine einsetzende Demenz noch verstärkt wird. Unser
erweiterter Standard beschreibt, wie biografische Informationen
sinnvoll in die tägliche Pflege einfließen.
Standard
"Gesprächsorientierte Biografiearbeit"
Definition:
-
Jeder Bewohner hat eine
einmalige und einzigartige Lebensgeschichte. Er durchlebt Höhen und
Tiefen, Erfolge und Niederlagen. Die Biografie hat Einfluss auf das
Verhalten, auf Gewohnheiten, auf Vorlieben und auf Abneigungen.
Insbesondere während des Fortschreitens einer demenziellen Erkrankung
kommt es häufig zu Verhaltensweisen, deren Ursachen sich ohne Kenntnis
der Bewohnerbiografie nicht erklären lassen.
-
Für demenziell erkrankte
Senioren hat die Erinnerung an die Vergangenheit eine wachsende
Bedeutung. Die hirnorganische Degeneration beeinträchtigt zunächst das
Kurzzeitgedächtnis, während das Langzeitgedächtnis mitsamt der
Biografie bis in späte Krankheitsphasen zumindest teilweise intakt
bleibt. Der Demenzkranke lebt also mehr und mehr in der Vergangenheit.
Diese müssen wir kennen.
-
Im Rahmen der
gesprächsorientierten Biografiearbeit werden im Dialog mit dem Bewohner
dessen wesentliche Daten und Fakten aus dem Leben zusammengetragen. Die
Pflegekraft sammelt Informationen zur Lebensgeschichte, zu Interessen
und zu Neigungen. Es geht dabei aber um mehr als einen bloßen
Lebenslauf. Viel wichtiger ist, welche emotionalen Verbindungen zu
derartigen Lebensphasen noch bestehen.
-
Die Biografiearbeit wird bei
allen Bewohnern durchgeführt. Wir nutzen dafür verschiedene
Hilfsmittel, wie etwa Fotos, Lieder, Filme usw. Sie kann in
Einzelgesprächen oder in Gruppengesprächen erfolgen.
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Ergänzend zur (in diesem
Standard definierten) gesprächsorientierten Biografiearbeit kann
ebenfalls die aktivitätsorientierte Biografiearbeit genutzt werden.
Erinnerungen werden hierbei weniger durch den Dialog, als vielmehr
durch aktives Tun geweckt. Es werden also bekannte traditionelle Lieder
gesungen, Collagen gebastelt oder Museen besucht. Wir arbeiten mit
alten Gegenständen, mit Kramkisten und mit vertrauten Gerüchen.
(Bild: Fotoalben sind
ergiebige Informationsquellen im Rahmen der Biografiearbeit.)
Grundsätze:
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Nur eine Biografiearbeit,
die auf echtem Interesse und auf menschlicher Anteilnahme basiert, ist
letztlich erfolgreich.
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Die individuelle Biografie
eines Bewohners ist ein intimes und wertvolles Gut. Der Wunsch, sein
Innerstes bedeckt zu halten, ist im Zweifel wichtiger als das
Informationsbedürfnis der Pflegekräfte. Der Bewohner entscheidet daher
selbst, welche Informationen er preisgeben möchte. Er darf nicht
bedrängt werden.
-
Alle Informationen werden
ausschließlich für pflegerische Zwecke genutzt und ansonsten
vertraulich behandelt.
-
Informationen aus zweiter
Hand, also etwa von Angehörigen, sind mit Vorsicht zu nutzen. Sie
können subjektiv gefärbt, unvollständig oder fehlerhaft sein.
-
Der Bewohner wird mit seinem
Gefühlsleben angenommen. Seine Angaben werden stets als "wahr"
akzeptiert, auch wenn ihre Korrektheit zweifelhaft erscheint. Es ist
nicht so wichtig "was" der Bewohner erlebt hat, sondern "wie" er es
erlebt hat.
-
Es kann Zeit brauchen, bis
ein Bewohner Vertrauen zu seiner Bezugspflegekraft aufgebaut hat. Eine
gute Biografiearbeit beschränkt sich folglich nicht auf ein einmaliges
Gespräch, sondern wird kontinuierlich fortgeführt.
-
Biografiearbeit trägt immer
auch die Gefahr einer Stigmatisierung in sich. Es werden daher keine
diskriminierenden Informationen über den Bewohner in der
Pflegedokumentation vermerkt (etwa eine Straftat in der Jugend).
Ziele:
-
Die gewonnenen Informationen
helfen den Pflegekräften, den Bewohner besser zu verstehen.
Insbesondere die Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten werden bestimmt
und in Zukunft vermieden. Das Handeln und das Auftreten des Bewohners
normalisieren sich.
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Die Persönlichkeit des
Bewohners wird auch im Verlauf einer demenziellen Erkrankung möglichst
lange bewahrt.
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Wir mobilisieren die Kräfte
im Bewohner, die ihm helfen, an die Vergangenheit anzuknüpfen und Kraft
für die Zukunft zu gewinnen.
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Wir kennen die Gewohnheiten
des Bewohners. Wir ermöglichen ihm in unserer Einrichtung ein Leben,
dessen Tagesabläufe sich an seiner Vergangenheit orientieren.
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Der Bewohner spürt, dass er
von uns als Persönlichkeit ernst genommen wird. Er merkt, dass seine
Wünsche bei der täglichen Pflege und Betreuung berücksichtigt werden.
-
Das Langzeitgedächtnis wird
aktiviert. Das Konzentrationsvermögen wird gefördert.
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Die zeitliche und örtliche
Orientierung des Bewohners wird gestärkt. Er wird im "hier und jetzt"
verankert.
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Wir ermöglichen es dem
Bewohner durch eine rückschauende Betrachtung und Reflexion, sein Leben
zu ordnen und jeder Lebensstation einen Sinn beizumessen. Wir
erleichtern es ihm damit insbesondere, belastende Erinnerungen zu
verarbeiten. Dem Bewohner soll eine versöhnliche Lebensbilanz möglich
werden. Durch die Rückbesinnung auf Leistungen und auf Erfolge wird das
Selbstwertgefühl gestärkt.
-
Die Kommunikation und die
soziale Integration des Bewohners werden gefördert.
Vorbereitung:
Organisation
-
Die intensive
Informationssammlung zur Bewohnerbiografie beginnt erst, wenn sich ein
neuer Bewohner nach dem Heimeinzug an die neue Umgebung gewöhnt hat.
Lediglich die Basisdaten zum Lebenslauf werden bereits im Vorgespräch
erhoben.
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Die Biografiearbeit ist
immer Aufgabe der Bezugspflegekraft. Die Zeit, die für die
Biografiearbeit benötigt wird, sollte im Dienstplan vermerkt werden. Es
ist sinnvoll, die Biografiearbeit auf solche Tage zu verschieben, an
denen die Arbeitsbelastung geringer ist.
-
Wenn der Bewohner einem
anderen Kulturkreis als die Pflegekraft entstammt, sollte (soweit
möglich) ein zweiter Mitarbeiter anwesend sein, der mit dem kulturellen
Hintergrund vertraut ist. Ist ein solcher Kollege nicht verfügbar,
bitten wir Angehörige oder enge Freunde um Unterstützung. Ansonsten
besteht die Gefahr, dass biografische Fakten in ihrer Bedeutung nicht
erkannt werden, weil sie nach unpassenden Wertmaßstäben bewertet werden.
-
Beispiel: Eine
koreanischstämmige Bewohnerin siedelte Mitte der 60er-Jahre allein nach
Deutschland über, um hier als Krankenschwester zu arbeiten. Sie konnte
ihre eigenen kranken Eltern nicht versorgen und leidet seitdem an
Schuldgefühlen. Ohne Kenntnis des traditionellen Familienverständnisses
kann eine westliche Pflegekraft die Tiefe dieses Konflikts nicht
erkennen.
-
Der Bewohner sollte während
des Gesprächs frei von Schmerzen sein. Wir achten ggf. auf eine
ausreichende Analgetikaversorgung.
-
Wir stellen sicher, dass
unser Pflegedokumentationssystem über einen separaten Biografiebogen
verfügt.
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Der Bewohner wird einige
Tage vorher über das geplante Gespräch informiert. Ggf. wird auch die
engste Bezugsperson eingeladen.
-
Wir bieten dem Bewohner an,
vor dem Gespräch seine eigene Lebensgeschichte niederzuschreiben. Wir
stellen ihm die notwendigen Schreibutensilien zur Verfügung.
-
Vor dem Gespräch kann es
sinnvoll sein, dass sich die Bezugspflegekraft mit anderen Kollegen
austauscht, wenn diese den Bewohner ebenfalls betreuen oder pflegen.
Häufig verfügen die Mitarbeiter über wichtige Informationen zum
Lebensweg des Bewohners, etwa weil sich der Pflegebedürftige dem
Kollegen anvertraut hat.
Informationsbeschaffung
bei Bezugspersonen
-
Wir befragen auch Angehörige
und enge Bezugspersonen zur Biografie des Bewohners. Relevant sind
insbesondere schwierige Lebensphasen, über die der Bewohner selbst
nicht gerne spricht.
-
Wenn die Angehörigen in
einer anderen Stadt wohnen, kann die Pflegekraft sie telefonisch um die
notwendigen Informationen bitten. Den Angehörigen wird
ein sorgsamer und vertraulicher Umgang mit den Daten zugesagt. Wir
verdeutlichen ihnen, dass es uns nicht um Familiengeheimnisse geht,
sondern ausschließlich um Informationen, die die Pflege und Versorgung
des Bewohners erleichtern.
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Wir fragen Angehörige, ob
diese über Fotoalben o. Ä. verfügen. Diese leihen wir ggf. frühzeitig
aus. Es ist dabei hilfreich, die Fotos entsprechend zu beschreiben,
etwa: "Tante Gerlinde mit den Cousins Werner und Frank. Foto von 1965."
Hinweise
-
Insbesondere bei demenziell
erkrankten Bewohnern sind Angehörige wichtige Gesprächspartner für die
Biografiearbeit. Allzu schnell werden sie daher als alleinige
Informationsquelle genutzt, etwa weil die Kommunikation mit ihnen viel
einfacher ist als mit verwirrten Demenzpatienten. Allerdings wissen
viele Kinder wenig über die prägenden Jugendjahre ihrer Eltern. Zudem
wird die Darstellung durch das persönliche Verhältnis beeinflusst. Das
Verhalten der Eltern wird beispielsweise idealisiert oder übertrieben
negativ dargestellt.
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In der ambulanten Pflege
gelingt die Biografiearbeit einfacher. Zumeist sind in der Wohnung des
Klienten zahlreiche Einrichtungsgegenstände, Fotos, Orden, Urkunden
usw. zu finden. Zudem führen ambulant versorgte Senioren ihre
vertrauten Lebensweisen zumeist weitgehend fort. Auch sind Angehörige,
Freunde und Nachbarn zumeist besser als Gesprächspartner erreichbar.
Beschaffung
von geeigneten Unterlagen
-
Wir fragen den Bewohner, ob
dieser ein Tagebuch führt. Falls dieses der Fall ist, können die
Aufzeichnungen (nach expliziter Erlaubnis durch den Bewohner!) für die
Biografiearbeit genutzt werden.
-
Wir sammeln wichtige
historische Informationen, etwa über die Vertreibung aus Ostpreußen
oder aus Schlesien, wenn der Bewohner dort lebte. Soweit möglich suchen
wir nach historischen Fotos aus der Stadt, in der der Bewohner lebte.
Wir nutzen dafür die Google-Bildersuche. Ideal sind die typischen
Postkartenmotive mit vertrauten Gebäuden.
Maßnahmen
unmittelbar vor dem Gespräch
-
Wir stellen einen geeigneten
Raum bereit, der ein vertrauliches Gespräch erlaubt (etwa wenn der
Bewohner in einem Zweibettzimmer lebt).
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Wir stellen Getränke und
Knabbereien bereit. Mitunter helfen Genussmittel wie ein großes, kühles
Bier oder eine Zigarre dabei, ein angenehmes Gesprächsklima zu schaffen.
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Schnurlose Telefone und
Smartphones werden leise gestellt.
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Der Bewohner wird in eine
Position gebracht, die es ihm ermöglicht, ein Fotoalbum anzusehen. Dazu
mobilisieren wird ihn z. B. in einen Sessel an einen Tisch. Alternativ
wird etwa das Rückteil des Betts hochgefahren.
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Der Bewohner soll seine
Brille aufsetzen. Wir stellen sicher, dass das Hörgerät funktionsfähig
ist.
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Die Pflegekraft fragt, ob
sie sich Notizen machen darf.
Durchführung:
Gesprächsführung
-
Sofern der Bewohner eigene
Fotoalben hat, sehen wir diese gemeinsam mit ihm durch. Oftmals ergibt
sich anhand der Bilder ein ergiebiger Informationsfluss. Die
Biografiearbeit sollte ruhig erfolgen. Beim Durchblättern erhält der
Bewohner ausreichend Zeit, um sich auf das Bild zu konzentrieren und
seine Erinnerungen zu sammeln. Dem Bewohner wird stets genug Zeit für
Antworten gelassen.
-
Der Bewohner wird nicht oder
nur sehr umsichtig korrigiert, wenn seine Erinnerungen offenbar falsch
sind oder wenn er historische Fakten verwechselt.
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Häufig stoßen Pflegekräfte
auch auf Lebenslügen. Es handelt sich dabei um Bewältigungsstrategien
bei starken inneren Konflikten. Wir belassen den Bewohner in seiner
Wahrheit und vermeiden Konfrontationen und Diskussionen; dieses
insbesondere bei Senioren mit demenziellen Erkrankungen.
-
Beispiel: Eine Bewohnerin
berichtet über das Ende ihrer Ehe in den 80er-Jahren. Auslöser dafür
wäre ein Seitensprung ihres Ehemanns gewesen. Ihre Kinder jedoch
berichten etwas anderes. Die Bewohnerin war seinerzeit alkoholabhängig,
was ihren Ehemann zur Trennung motivierte.
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Zeitliche Sprünge in den
Schilderungen des Bewohners können auf einen größeren Zeitraum
hinweisen, an den er sich ungern erinnert. Die Biografiearbeit bleibt
immer auf solche Bereiche beschränkt, die der Bewohner von sich aus
schildert. Wir fragen ("bohren") nicht weiter nach, wenn dieses den
Bewohner offensichtlich belastet.
-
Bedrückende Erinnerungen
werden nicht mehr von der Pflegekraft aktiv angesprochen. Wir stehen
jedoch für ein Gespräch zur Verfügung, wenn der Pflegebedürftige von
sich aus diese Lebenskrisen thematisiert.
-
Die Biografiearbeit sollte
tendenziell die positiven Aspekte betonen. Der Bewohner darf und soll
also "in Erinnerungen schwelgen". Die selbstkritische
Auseinandersetzung mit Fehlern und mit Versäumnissen sollte in einem
erträglichen Rahmen bleiben.
-
Die Pflegekraft sollte
sachlich und stets etwas distanziert zuhören; dieses insbesondere bei
Themen, die den Bewohner belasten. Wenn die Pflegekraft ein zu großes
Maß an Mitgefühl zeigt, kann dieses die emotionalen Barrieren des
Bewohners destabilisieren.
-
Moralische Wertungen von
geschilderten Handlungen des Bewohners sollten unterbleiben
(Kriegserlebnisse, Eheprobleme, Erziehungsprobleme usw.).
-
Nicht alle Informationen
sind so wichtig, dass sie dokumentiert werden müssen. Ggf. kann sich
die Biografiearbeit auf prägende Lebensabschnitte konzentrieren.
-
Der Bewohner sollte zu
keinem Zeitpunkt das Gefühl haben, nach einem festen Schema aus- und
abgefragt zu werden.
-
Viele Informationen werden
Pflegekräften nur unter dem "Siegel der Verschwiegenheit" mitgeteilt.
Diese Biografiedaten werden nicht in der Dokumentation vermerkt.
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Bei Bewohnern mit
eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten achtet die Pflegekraft
verstärkt auf nonverbale Signale, also insbesondere auf die Gestik und
auf die Mimik.
Themenschwerpunkte
Um
den Bewohner ganzheitlich wahrzunehmen, ist eine Vielzahl an
Informationen erforderlich. Relevant sind folgende Themenbereiche:
-
soziales Umfeld (Großeltern,
Eltern, Geschwister, Familienstand, Kinder, Enkel usw.)
-
Kindheit
-
Schulzeit / Jugend
-
Krieg, Verfolgung und andere
einschneidende Erlebnisse
-
Berufsleben (Tätigkeit,
Arbeitsort, Arbeitslosigkeit)
-
Ehe / Partnerschaft
-
religiöses Leben und
kulturelle Prägung
-
politische Einflüsse
-
Gewohnheiten zur
Tagesstrukturierung
-
Essgewohnheiten
-
Schlafgewohnheiten
-
Konfliktlösungsstrategien
Fehlerquellen
und Gefahren
-
Die Biografiearbeit kann für
den Bewohner belastend sein. Zudem bleibt Raum für Fehlinterpretationen.
-
Lebensgeschichtliche
Ereignisse werden von der Pflegekraft überbewertet. Beispiel: Nicht für
jeden Senioren war der Krieg automatisch traumatisierend.
-
Generell wird häufig
negativen Ereignissen eine höhere Bedeutung zugemessen als positiven.
Tatsächlich jedoch ist die Geburt eines Kindes ebenso wichtig wie der
frühe Tod des Ehepartners.
-
Der Bewohner verdrängt,
vergisst oder verleugnet traumatisierende Ereignisse. Für die Psyche
ist dieses eine wichtige Schutzfunktion, die durch bohrende Nachfragen
schnell ausgehebelt wird. Insbesondere, wenn der Bewohner mit
Erinnerungsmaterial wie etwa Fotos konfrontiert wird, kann es zu einer
Retraumatisierung kommen.
-
Der Bewohner erinnert sich
an bestimmte Ereignisse nicht mehr. Häufiges Nachfragen kann dazu
führen, dass der Bewohner konfabuliert. Er füllt also Gedächtnislücken
durch frei erfundene Phantasieerinnerungen. Mitunter nutzt der Bewohner
auch Informationen aus zweiter Hand und gibt sie als eigene
Erinnerungen aus.
-
Der Bewohner sieht sich in
seiner Intimsphäre beeinträchtigt, will die fragende Pflegekraft aber
nicht vor den Kopf stoßen. Er erfindet bewusst Fakten, um den
Wissensdurst des Mitarbeiters zu stillen und seine Ruhe zu haben.
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Viele Biografiebögen bleiben
oberflächlich, weil Pflegekräfte darauf verzichtet haben, weitere
Details herauszuarbeiten und tiefer nachzufragen. Dann werden etwa
"lesen und Musik hören" als Hobbys angegeben. Es finden sich aber keine
Information darüber, was der Bewohner gerne liest und welche Musik er
gerne hört.
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Die Bedeutung von
biografischen Informationen darf nicht überbewertet werden.
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Beispiel: Bei einer
Bewohnerin wird eine tiefe kirchliche Verankerung angenommen, da diese
vor dem Umzug in das Pflegeheim jeden Sonntag mit ihrem verstorbenen
Mann zum Gottesdienst ging. Tatsächlich jedoch war nur ihr Ehemann
religiös, nicht aber sie selbst. Das regelmäßige Aufsuchen der Kirche
erfolgte ihrem Mann zuliebe. Nach dessen Tod ist sie insgeheim froh, am
Sonntag länger ausschlafen zu können.
-
Die Biografie kann "lügen",
wenn das Leben eines Bewohners nur eine Fassade ist.
-
Beispiel: Ein Bewohner hat
schon in seiner Jugend erkannt, dass er homosexuell ist und zudem
eigentlich die "feminine" Rolle eines Hausmanns bevorzugen würde. Um
dem Rollenbild seines tief religiösen Familienumfelds zu entsprechen,
heiratete er jedoch eine Frau, bekam zwei Kinder und arbeitete als
Hüttenwerker am Hochofen. Das sich aus den Biografiedaten abzeichnende
Bild entspricht somit in keiner Weise der realen Person. Daraus
abgeleitete Freizeitangebote gehen ins Leere.
Weiteres
-
Wir nutzen eine
"Zeitschiene" im Rahmen der Gruppenarbeit. Auf einer Papierbahn wird
ein langer Balken in unterschiedliche Lebensabschnitte eingeteilt. Die
Teilnehmer tragen einschneidende Erlebnisse oder markante Daten ihres
Lebens ein. In der Gruppe kann es nun zu einem Dialog über wichtige
Ereignisse kommen, etwa die Hochzeit oder die Geburt des ersten Kinds.
Nachbereitung:
Abschluss
des Gesprächs
-
Der Besprechungsraum wird
aufgeräumt.
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Der Biografiebogen wird
ausgefüllt.
-
Sollte ein Erinnerungsbuch
o. Ä. erstellt worden sein, so verbleibt dieses beim Bewohner.
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Die Pflegeplanung /
Maßnahmenplanung wird dahin gehend überprüft, ob diese aufgrund der
gesammelten Daten überarbeitet werden muss.
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Ggf. wird ein Folgetermin
für das nächste Gespräch festgelegt.
Anwendung
der gewonnenen Informationen
Die
im Rahmen der Biografiearbeit ermittelten biografischen Daten können
auf vielerlei Weise im Pflegealltag genutzt werden:
-
Eine Vertrauensbeziehung zum
Bewohner bildet sich schneller, wenn die Pflegekraft die zentralen
biografischen Fakten kennt und sie in ein Gespräch einfließen lässt.
Der Bewohner fühlt sich wertgeschätzt und wird in seiner Identität
gefestigt. Oftmals kann eine passend eingestreute Bemerkung der Anfang
eines längeren Dialogs sein.
-
Beispiel: Eine Pflegekraft
erwähnt, dass sie in einer Zeitschrift eine Fotoreportage über
Tankwarte in Südamerika gefunden hat. Dieses sei doch auch der Beruf
des Bewohners gewesen. Sie fragt ihn, ob es tatsächlich damals an jeder
Tankstelle einen Tankwart gab.
-
Die Kenntnis biografischer
Daten erleichtert es, den Bewohner in das soziale Gefüge der
Pflegeeinrichtung zu integrieren. Oftmals ziehen sich Senioren nach dem
Heimeinzug zurück und zeigen keine Initiative, neue Kontakte zu
knüpfen. Es liegt dann ggf. an den Pflegekräften, die Kommunikation mit
den Mitbewohnern zu fördern. Dieses gelingt leichter, wenn die
Pflegekräfte mögliche Anknüpfungspunkte bestimmen können.
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Beispiel: Eine neue
Bewohnerin hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Aus der
Biografiearbeit ist bekannt, dass sie ihre Jugend im ostpreußischen
Gumbinnen verbracht hat. Die Pflegekraft stellt nun den Kontakt zu
einer anderen Bewohnerin her, die in Königsberg aufwuchs.
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Biografisch verankerte
Rituale werden (soweit möglich) fortgeführt. Dieses ist insbesondere im
Rahmen der Tagesstrukturierung wichtig.
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Beispiel: Ein Bewohner ist
es gewohnt, vor dem Zubettgehen etwas fernzusehen und dabei ein Glas
Bier zu trinken. Unter dem Eindruck des Heimeinzugs hat er dieses nicht
fortgeführt, klagt nun aber über Einschlafstörungen. Diese bessern
sich, als die Pflegekraft den Bewohner animiert, sein Ritual wieder
aufzunehmen.
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Das Wissen um das berufliche
und private Umfeld erleichtert es, eine gemeinsame Kommunikation zu
finden.
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Beispiel 1: Ein Bewohner
betrieb jahrelang eine Eckkneipe in einem Arbeiterviertel. Sein rauer
Umgangston auch mit Pflegekräften ist also kein Zeichen mangelnden
Respekts, sondern die biografisch verwurzelte Kommunikation.
-
Beispiel 2: Der inzwischen
demente Bewohner war zeitlebens Berufssoldat. Durch freundliche Bitten
ist er nur eingeschränkt zur Beteiligung etwa an der Körperpflege zu
motivieren. Kurzen und klaren Aufforderungen insbesondere durch
männliches Pflegepersonal hingegen kommt er sofort nach.
-
Bewohner können leichter für
Freizeitbeschäftigungen motiviert werden, wenn diese einen
biografischen Bezug zum Lebenslauf des Bewohners haben.
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Beispiel: Eine demente
Bewohnerin ist nicht für Haushaltstätigkeiten zu motivieren. Erst der
Hinweis, dass die kinderlose Frau bis zur Pensionierung als technische
Zeichnerin arbeitete, ermöglicht eine angemessene Beschäftigung.
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Wenn Beruhigungs- und
Angstbewältigungsstrategien bekannt sind, kann auch die Pflegekraft
diese nutzen.
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Beispiel: Eine Bewohnerin
leidet unter nächtlichen Angststörungen. Die Tochter berichtet, dass
ihre Mutter schon in der Vergangenheit an diesen Panikschüben litt.
Geholfen habe ihr damals aufzustehen und eine kurze Zeit fernzusehen.
Diese Strategie erwies sich auch im Pflegeheim als wirksam.
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Wenn ein demenziell
veränderter Bewohner ein für uns unerklärliches Verhalten zeigt, prüfen
wir, ob dieses biografisch begründet ist.
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Beispiel 1: Ein Bewohner
hortet Lebensmittel, die in seinem Schrank verderben. Dem Versuch der
Pflegekräfte, diese zu entsorgen, widersetzt er sich. Der
Pflegebedürftige war 10 Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und
wurde erst 1954 entlassen.
-
Beispiel 2: Eine
Bewohnerin reagiert auf die Anwesenheit eines bestimmten Pflegehelfers
mit panischer Angst. Der Pflegehelfer stammt aus Zentralafrika. Die
Bewohnerin war nach Kriegsende das Opfer sexueller Gewalt durch einen
farbigen Besatzungssoldaten.
weitere
Maßnahmen
-
In keinem Fall werden
strafrechtlich relevante Informationen dokumentiert und weitergegeben.
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Beispiel: Die Bewohnerin
berichtet, dass sie vor 20 Jahren unter Alkoholeinfluss ein Kind
überfuhr, Fahrerflucht beging und niemals zur Verantwortung gezogen
wurde.
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Bei höchst sensiblen
Informationen sind deren Dokumentation und Weitergabe an andere
Pflegekräfte ohnehin nicht notwendig. Viel wichtiger ist, dass die
daraus resultierende Pflegemaßnahmen sorgfältig in der Pflegeplanung /
Maßnahmenplanung hinterlegt werden.
-
Beispiel: Ein Bewohner
lebte als Kind in einer Betreuungseinrichtung und wurde dort das Opfer
sexueller Übergriffe durch männliche Aufsichtspersonen. Diese
Information wird nicht in der Pflegedokumentation hinterlegt. Sehr
wichtig hingegen ist, dass die deswegen zu beachtenden Konsequenzen
vermerkt werden, also etwa ein besonders sensibles Vorgehen bei der
Intimpflege ausschließlich durch weibliches Pflegepersonal.
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Die Biografiearbeit ist
niemals abgeschlossen. Im weiteren Verlauf der Versorgung wird die
Pflegekraft immer wieder biografische Informationen vom Bewohner
erhalten. Nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, dass sich ein
Vertrauensverhältnis zwischen Bewohner und Pflegekraft erst im Verlauf
vieler Monate entwickelt. Entsprechend spät werden viele
Pflegebedürftige ihre privaten Erinnerungen teilen. Diese spontanen
biografischen Gespräche ereignen sich häufig dann, wenn die Pflegekraft
dieses gar nicht erwartet, also etwa bei der Körperpflege oder bei
anderen pflegerischen Maßnahmen. Gewonnene Daten werden immer wieder
nachgetragen.
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Der Biografiebogen ist
wichtig und wird daher nicht "irgendwo" in der Dokumentationsmappe
abgelegt. Er muss gut auffindbar sein. Jede Pflegekraft, die einen
Bewohner versorgt, sollte zumindest rudimentär über dessen
Lebensgeschichte informiert sein.
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Die Erkenntnisse aus der
Biografiearbeit werden bei der Erstellung der Pflegeplanung /
Maßnahmenplanung verwendet. Sie beeinflussen maßgeblich die
Durchführung etwa der Millieutherapie, der Validation, der basalen
Stimulation und der 10-Minuten-Aktivierung.
Dokumente:
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Biografiebogen
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Gesprächsleitfaden für die
Biografiearbeit
Verantwortlichkeit / Qualifikation:
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