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Standard "Konflikt zwischen Klienten und Angehörigen" (ambulant)

Was tun, wenn Klienten das Opfer körperlicher Gewalt durch Angehörige werden? Wegschauen ist keine Option. Aber auch vor einer Anzeige bei der Polizei schrecken viele Pflegekräfte zurück; zumal dann, wenn der Verdacht eher vage ist. Mit einem kurzen Standard können Sie in Ihrem Pflegedienst festlegen, welche Reaktion angemessen ist.


Standard "Konflikt zwischen Klienten und Angehörigen" (ambulant)


Definition:

  • Befragungen von pflegenden Angehörigen zeigen, dass Gewaltanwendung gegen pflegebedürftige Familienmitglieder ein sehr häufig auftretendes Problem ist. 40 Prozent aller pflegenden Angehörigen üben zumindest einmal Gewalt aus. Zumeist handelt es sich dabei um psychische Aggressionen, also etwa um verletzende Beschimpfungen oder um Drohungen. Aber rund 12 Prozent der Befragten werden auch körperlich übergriffig. Hinzu kommen verschiedene Formen der Vernachlässigung sowie Freiheitsentzug.
  • Hauptgrund für die Übergriffe ist zumeist Überforderung der pflegenden Angehörigen sowie das Gefühl einer sozialen Isolation.
  • Bei der Frage, wie wir im Verdachtsfall reagieren, ist zu beachten, dass hier zwei Rechtsgüter kollidieren.
    • Einerseits unterliegen wir der Schweigepflicht. Wir dürfen also keine persönlichen oder medizinischen Daten weitergeben. Dieses gilt auch für Anzeigen bei der Polizei, insbesondere, wenn dieses ohne Wissen und ohne Zustimmung des Klienten erfolgt.
    • Eine Anzeige kann die familiäre Beziehung erheblich schädigen, etwa wenn gegen Kinder oder gegen Enkel ermittelt wird. Zudem werden die allermeisten Verfahren ohnehin eingestellt, etwa wegen Geringfügigkeit oder weil die Beweislage zu schlecht ist.
    • In vielen Fällen führt die Einschaltung der Polizei zu einer dauerhaften Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Angehörigen sowie dem Klienten auf der einen Seite und unserem Pflegedienst auf der anderen Seite. Wir würden ggf. einen Kunden verlieren.
    • Gleichzeitig jedoch sind wir verpflichtet, den Klienten vor Schädigungen zu bewahren. Dieses ergibt sich aus der Berufsethik von Pflegekräften, den Arbeitsverträgen zwischen der Pflegekraft und dem Pflegedienst sowie aus dem Pflegevertrag zwischen dem Klienten und dem Pflegedienst.
    • Wenn wir Gewalt wahrnehmen und nicht handeln, machen wir uns ggf. strafbar. Es können Beihilfe zur Körperverletzung sowie Beihilfe zur Misshandlung Schutzbefohlener vorliegen.
    • Wir müssen also abwägen, ob der Klient in einem solchen Maß geschädigt wird, dass das Brechen der Schweigepflicht gerechtfertigt ist. Ein wichtiger Faktor ist dabei, ob es sich um einen einmaligen Zwischenfall handelt oder ob weitere Übergriffe zu befürchten sind. Wenn wir durch eine Anzeige bei der Polizei weitere Gewaltanwendung verhindern können, so ist dadurch i. d. R. ein Bruch der Schweigepflicht gerechtfertigt.

Grundsätze:

  • Das Verhältnis zwischen Angehörigen und dem Klienten ist eine Privatangelegenheit. Aus kleineren Konflikten ohne langfristig nachteilige Effekte auf den Pflegebedürftigen halten wir uns heraus.
  • Wir versuchen stets, einen Interessenausgleich zwischen Angehörigen und dem Klienten zu erreichen. Im Zweifelsfall aber werden wir uns stets auf die Seite des Pflegebedürftigen stellen und seine Interessen vertreten.
  • Wenn wir Gewalt gegen einen Klienten beobachten oder vermuten, aber nicht einschreiten, so macht uns das zu Mitwissern.
  • Keine Pflegekraft handelt eigenmächtig, sofern kein akuter Notfall vorliegt. Die Entscheidung darüber, wie bei einem Gewaltverdacht vorzugehen ist, trifft die Pflegedienstleitung gemeinsam mit dem gesamten Pflegeteam.

Ziele:

  • Der Klient wird vor gewalttätigen Übergriffen geschützt.
  • Bei einer nur einmaligen Handgreiflichkeit wird das Vertrauen zwischen dem Angehörigen und dem Klienten wieder hergestellt.
  • Soweit dieses möglich ist, kann der Klient in seiner vertrauten Wohnumgebung verbleiben.
  • Der Pflegedienst und alle Mitarbeiter werden vor dem Vorwurf geschützt, nicht adäquat auf vermeintliche oder auf reale Übergriffe reagiert zu haben.

Vorbereitung:

Organisation

  • Bereits im Rahmen der Einarbeitung werden neue Pflegekräfte für Gewalt durch Angehörige sensibilisiert. Wir erläutern diesen, dass das Problem in unserem Team sehr ernst genommen wird. Etwaige Verdachtsmomente sollen zeitnah an die Leitungsebene weitergeleitet werden.
  • Bei der Zuordnung von Klienten und Bezugspflegekräften achten wir auf eine möglichst gerechte Verteilung. Es ist zu vermeiden, dass einzelne Mitarbeiter gehäuft solche Klienten betreuen, die ein problematisches soziales Umfeld aufweisen.

Achten auf Anzeichen

  • Es ist wichtig, immer auch das Umfeld des Klienten im Blick zu haben. Risikofaktoren sind Suchtmittelabhängigkeit von Angehörigen oder eine prekäre finanzielle Situation im Familienkreis. Relevant sind überdies eine sichtbare Vernachlässigung des Wohnumfelds und eine sehr beengte Wohnsituation.
  • Im Rahmen der Biografiearbeit prüfen wir, ob Gewalt im Familienkreis des Klienten ein akzeptiertes Mittel bei persönlichen Konflikten ist. Wenn also der Klient bei der Erziehung seiner Kinder Gewalt anwandte, kann sich diese Situation umkehren, wenn er pflegebedürftig wird und die Hilfe seiner Familie braucht. Dann sind es die Kinder, die Gewalt gegen die Eltern anwenden.
  • Ein hohes Risiko besteht auch bei wechselseitigen Abhängigkeitsbeziehungen innerhalb des Familienumfelds. Dazu zählt etwa finanzieller Druck, beispielsweise wenn die Tochter auf Zuwendungen durch die pflegebedürftige Mutter angewiesen ist. Von Bedeutung sind auch soziale Abhängigkeiten, beispielsweise falls Angehörige nur deshalb die Versorgung übernehmen, weil dieses vom Umfeld so erwartet wird.
  • Wir achten auf psychische Veränderungen wie etwa depressive Verstimmungen, Panikreaktionen oder ungewöhnliche Aggressivität. Diese Verhaltensänderungen können die Folge von körperlicher Gewalterfahrung sein.
  • Wir berücksichtigen Aussagen von Dritten, wenn diese entsprechende Verdachtsmomente äußern. Beispiel: Ein Nachbar spricht die Pflegekraft an und teilt dieser mit, dass der Sohn des Klienten gewalttätig gegen den Vater wird. Diese Angaben werden dokumentiert.
  • Bei allen pflegerischen Maßnahmen achten wir auf Veränderungen, die auf eine Misshandlung hindeuten. Dazu zählen Hämatome, Schwellungen sowie Hautverletzungen.
  • Verdächtig sind Verletzungen in verschiedenen Heilungsstadien, also etwa Hämatome, die diverse "Farben" aufweisen. Dieses deutet auf kontinuierliche Übergriffe hin, die über einen längeren Zeitraum erfolgen.
  • Wir achten auf Verbrennungen und auf Verbrühungen an dafür untypischen Körperstellen, etwa an den Beinen, am Rücken oder am Gesäß.
  • Relevant sind auch Verletzungen im Intimbereich als Hinweise für einen sexuellen Übergriff.
  • Wenn wir entsprechende Beobachtungen machen, sprechen wir den Klienten an. Wir fragen, wie er sich die Verletzung zugezogen hat. Die Angaben des Klienten werden dokumentiert.
  • Die Pflegekraft vermerkt die Verletzungen präzise in der Pflegedokumentation. Dazu zählen die Lokalisation, die Art der Verletzung, die Größe und bei Hämatomen die Farbe des Blutergusses.

Durchführung:

Reaktion

  • Jeder Verdachtsfall wird zeitnah an die Pflegedienstleitung gemeldet. In diesem Fall wird zeitnah eine Fallbesprechung angesetzt. Im Kollegenkreis hinterfragen wir, ob die angegebene Verletzungsursache zum Befund passt. Können etwa die Blutergüsse im Gesicht tatsächlich die Folge eines Sturzes oder einer Kollision mit einer offenen Tür sein?
  • Sehr beunruhigend ist auch, wenn der Klient angibt, sich nicht an die Verletzung erinnern zu können oder wenn er dazu schweigt.
  • Wir beachten, dass es sich auch um Selbstverletzungen handeln könnte. Der Klient könnte diese aus Scham verschweigen. Der Angehörige würde dann zu Unrecht verdächtigt.
  • Wir benachrichtigen den Hausarzt über unsere Beobachtungen und über einen Verdachtsfall. Es ist zu prüfen, ob etwa Hämatome z. B. die Folge einer Überdosierung von blutverdünnenden Medikamenten sind. Die Information an den Arzt erfolgt stets schriftlich.
(Hinweis: Ärzte befinden sich im gleichen Gewissenskonflikt wie Pflegekräfte. Sie unterliegen der Schweigepflicht, sind aber auch verpflichtet, ihren Patienten vor Schaden zu bewahren. Sie haben allerdings zwei Vorteile. Zumeist kennen sie den Patienten und sein Umfeld länger als der Pflegedienst. Sie können also ggf. die Gefährdung besser abschätzen. Zudem besitzt ihr Wort und ihre Expertise mehr Gewicht als das einer Pflegekraft. Wenn Ärzte also die Polizei einschalten, ist eine entschlossene Reaktion der Behörden wahrscheinlicher.)

Abwägung

  • In seltenen Fällen ist es notwendig, dass wir die Schweigepflicht brechen. Es kann notwendig werden, auch ohne explizite Zustimmung des Klienten die Polizei zu informieren. Dafür erörtern wir im Team folgende Fragen:
    • Besteht Gefahr für die Gesundheit und für das Leben des Klienten? Ist es denkbar, dass die Situation weiter eskaliert? Ist ein Tötungsdelikt denkbar?
    • Wird der Klient seiner Freiheit beraubt?
    • Ist der Klient in der Lage, selbst eine Anzeige zu stellen? Würde er mutmaßlich wollen, dass wir dieses für ihn übernehmen? Von einer Zustimmung ist ggf. auszugehen, wenn der Klient demenziell erkrankt ist und den Angriffen durch Angehörige ausgeliefert ist.
    • Ist eine Information der Polizei überhaupt dazu geeignet, die Situation des Klienten zu verbessern? Würde er dadurch vor weiteren Übergriffen geschützt?
  • Eine häufige Reaktion übergriffiger Angehöriger ist es, den Pflegedienst zu wechseln. Wir prüfen dann, ob dieses geschieht, um weiterhin gewaltsam gegen den Klienten vorzugehen. Auch diese Konstellation kann den Bruch der Schweigepflicht rechtfertigen.
  • Unsere Abwägung wird protokolliert, damit wir im Fall einer juristischen Auseinandersetzung geschützt sind.

Beratung des Klienten

  • Wenn der Klient offensichtlich das Opfer von Gewalt durch einen Angehörigen geworden ist, bieten wir ihm entsprechende Hilfen an.
  • Dem gewalttätigen Angehörigen kann ggf. der Zugang zur Wohnung des Klienten verboten werden. In diesem Fall sollten von diesem alle Wohnungsschlüssel eingefordert werden. Falls notwendig wird der Schließzylinder getauscht.
  • Ist eine räumliche Trennung aufgrund der Wohnsituation nicht möglich, schlagen wir den Umzug in eine Wohngemeinschaft vor. Als temporäre Lösung bietet sich die Unterbringung in einer Kurzzeitpflegeeinrichtung an. Der Übertritt in die stationäre Versorgung in einem Pflegeheim sollte als letzte Option erwogen werden.
  • Falls gewünscht unterstützen wir den Klienten dabei, bei der Polizei Anzeige zu stellen. Ggf. ist es dafür notwendig, dass wir von ihm von unserer Schweigepflicht entbunden werden.

Beratung des Angehörigen

Wenn es hinreichende Anzeichen dafür gibt, dass ein Angehöriger gewalttätig gegen einen Klienten vorgeht, suchen wir ggf. den Dialog. Wir halten dem Angehörigen zugute, dass ihm vielleicht gar nicht bewusst ist, dass er Gewalt ausübt. Ein Beispiel:

  • Die Pflegekraft beobachtet, dass die Tochter beim Transfer ihres bettlägerigen Vaters ziemlich ruppig vorgeht. Diese zerrt und zieht an den Armen und an den Beinen des Klienten, was dieser mit einem Stöhnen und mit einem schmerzverzerrten Gesicht quittiert.
  • Wir vermeiden Vorwürfe, sondern schildern ihm unsere Beobachtungen und Eindrücke. Also: "Mir ist etwas aufgefallen, wenn Sie Ihren Vater im Bett bewegen. Ihre Unterstützung ist etwas abrupt und scheint schmerzhaft für ihn zu sein."
  • Wir zeigen dem Angehörigen auf, welche Risiken diese Handlungen mit sich bringen: "Ihr Vater leidet unter Bewegungseinschränkungen im Bereich der Schultern und der Hüfte. Ruckartige Bewegungen führen zu einer Überbelastung der Gelenke und zu großen Schmerzen. Außerdem kann es durch die Reibung dazu kommen, dass sich Druckgeschwüre bilden. Und für Ihren Rücken ist das auch sehr belastend."
  • Wichtig ist es, dem Angehörigen Alternativen aufzuzeigen, in unserem Beispiel also etwa Transfertechniken aus dem Bereich der Kinästhetik.
  • Wenn wir eine Überforderung des Angehörigen vermuten, machen wir ihn auf zusätzliche Hilfen aufmerksam, etwa Angehörigengruppen. Vom zuständigen Pflegestützpunkt kann ein Pflegeberater angefordert werden.
  • Wir bieten dem Angehörigen auch an, dass der Pflegedienst einen höheren Anteil an der Versorgung des Klienten übernimmt. Der Angehörige wird dadurch entlastet.

Nachbereitung:

  • Beobachten wir einen massiven körperlichen Übergriff auf einen Klienten durch seinen Angehörigen, rufen wir sofort den Notarzt sowie die Polizei. Wir bleiben anwesend, bis diese eintreffen.
  • Wenn der Missbrauch von einem gerichtlich bestellten Betreuer ausgeht, wird ggf. das Amtsgericht informiert. Dieses wird die bestehende Betreuung überprüfen und ggf. ändern.
  • Wir stellen eine lückenlose Dokumentation sicher. Diese dient auch der eigenen Absicherung.

Dokumente:

  • Pflegedokumentation

Verantwortlichkeit / Qualifikation:

  • alle Mitarbeiter



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