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Standard "Schmerzanamnese bei
kognitiv nicht eingeschränkten Senioren"
Anders
als der Blutdruck oder die Körpertemperatur lassen sich Schmerzen nicht
messen. Dazu kommt, dass sich viele Betroffene ihre Schmerzen nicht
anmerken lassen. Eine fundierte Schmerzanamnese erfordert also viel
Erfahrung.
Standard
"Schmerzanamnese bei kognitiv nicht eingeschränkten Senioren"
Definition:
-
Eine unzureichende Schmerzbehandlung ist für
den betroffenen Bewohner mit erheblichen gesundheitlichen Risiken sowie
mit einer Minderung der Lebensqualität verbunden. Pflegeeinrichtungen
sind daher dazu verpflichtet, Schmerzzustände regelmäßig einzuschätzen.
Durch diese Beurteilung können die Beschwerden im zeitlichen Verlauf
erfasst und analysiert werden. Basierend auf dieser Erfassung führen
wir dann entsprechende pflegerische Maßnahmen durch, die zu einer
Linderung der Schmerzen beitragen. Um diese Maßnahmen gezielt
auszuwählen, ist eine aktuelle Schmerzeinschätzung unverzichtbar.
-
Mit zunehmendem Lebensalter steigt die Anzahl
der chronischen Schmerzpatienten. In der Gruppe der 60- bis 90-Jährigen
wird deren Anteil auf 60 bis 80 Prozent geschätzt. Hauptauslöser sind
degenerative Prozesse des Bewegungsapparats. Dazu kommen
Gefäßerkrankungen, neuropathische Schmerzen sowie Beschwerden als
Ausdruck depressiver Erkrankungen.
-
Im Rahmen einer Schmerzanamnese wird erfasst,
ob ein Bewohner Schmerzen hat. Wir ermitteln, seit wann dieser Schmerz
existiert und welche Intensität er aufweist. Überdies bringen wir in
Erfahrung, welche Faktoren den Schmerz auslösen oder lindern. Alle
Informationen werden dokumentiert und archiviert. Damit ist es möglich,
die Schmerzentwicklung über Monate auf möglichst objektive Weise zu
verfolgen.
-
Die Schmerzen eines anderen Menschen korrekt
einzuschätzen und zu dokumentieren ist schwierig, da das
Schmerzempfinden naturgemäß sehr subjektiv ist. Anders als z. B. der
Blutdruck oder der Puls lässt sich der Schmerz nicht messen und in
Zahlen ausdrücken. Dennoch ist eine sorgfältige Erfassung der
Beschwerden sehr wichtig, da Schmerzen immer ein Indiz auf eine
körperliche Störung sind. Gleichzeitig kann nur so die Wirksamkeit
einer Schmerztherapie überprüft werden.
-
Erschwert wird diese Diagnostik durch
Multimorbidität. Oftmals kann ein kausaler Zusammenhang zwischen dem
Schmerz und der auslösenden Erkrankung nicht hergestellt werden.
-
Eine weitere Fehlerquelle bei der
Schmerzanamnese sind demenzielle Erkrankungen. Betroffene Bewohner sind
in ihrer Schmerzwahrnehmung gestört. Schmerzen werden diffus
wahrgenommen, ohne dass sich die betroffene Körperregion genauer
eingrenzen lässt. Und selbst wenn dieses gelingt, können sich die
Bewohner gegenüber Pflegekräften oder Ärzten oft nicht präzise
artikulieren.
Schmerzeinschätzung als Qualitätsindikator
-
Die neue Qualitätsprüfung verpflichtet
Pflegeheime, regelmäßige Schmerzeinschätzungen durchzuführen. Dieser
Punkt ist relevant bei allen Bewohnern, die vermutlich oder
möglicherweise Schmerzen haben. Einmalige Beschwerden und nur über
wenige Tage auftretende Schmerzen (etwa Kopfschmerzen oder
Wundschmerzen nach einer ambulanten Operation) sind nicht zu
berücksichtigen.
-
Die Erfüllung dieser Maßnahme muss dokumentiert
und anonymisiert an die Datenauswertungsstelle (DAS) übermittelt
werden. Dort wird aus den Rückmeldungen ein sog. "Qualitätsindikator"
errechnet. Diese Kennzahl sagt aus, wie hoch der Anteil der Bewohner
ist, bei denen die Schmerzeinschätzung nicht älter als drei Monate ist.
Wir streben einen überdurchschnittlich hohen Wert an.
-
Gemeinsam mit anderen dieser Kennzahlen sowie
dem Ergebnis der externen Qualitätsprüfung wird dieser Wert im Rahmen
der öffentlichen Berichterstattung online gestellt.
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Gefordert wird eine Schmerzeinschätzung, die
nicht älter als drei Monate ist. Diese soll mindestens Angaben zur
Schmerzintensität, zur Schmerzqualität, zur Schmerzdauer und zur
Schmerzlokalisation machen. Außerdem sind die Folgen für den
Lebensalltag zu erfassen. Wenn wir also den Bewohner lediglich danach
fragen, ob er Schmerzen hat, weitere Aspekte der Schmerzsituation
jedoch ignorieren, so gilt diese Forderung als nicht erfüllt.
Hinweis: Der Indikator "Aktualität der Schmerzeinschätzung" ist genau
genommen lediglich ein Prozessindikator. Eigentlich sollte für die neue
Qualitätsprüfung ein Indikator entwickelt werden, der die Stabilität
bzw. die Veränderung der Schmerzsituation vergleicht. Dieses wurde
verworfen, weil die Schmerzsituation sowohl von der ärztlichen Therapie
als auch von pflegerischen Maßnahmen beeinflusst wird. Ein
Qualitätsindikator darf aber nur solche Faktoren erfassen, die ganz
überwiegend im alleinigen Verantwortungsbereich des Pflegeheims liegen.
Schmerzeinschätzung als Qualitätsaspekt
-
Neben der Rolle als Qualitätsindikator ist der
Umgang mit Schmerzen auch ein Qualitätsaspekt (Punkt 2.2). Hier wird
die Gesamtheit des pflegerischen Schmerzmanagements überprüft.
Pflegeheime sind verpflichtet, mit dem behandelnden Arzt und mit
anderen Berufsgruppen zusammenzuarbeiten, sofern diese an der
Schmerzbewältigung beteiligt sind.
-
Als normative Bezugspunkte für die
Qualitätsbeurteilung fungieren die Expertenstandards "Schmerzmanagement
in der Pflege bei akuten Schmerzen" und "Schmerzmanagement in der
Pflege bei chronischen Schmerzen".
-
Im Rahmen der Qualitätsprüfung kann der MDK auf
verschiedene typische Mängel treffen:
-
Die Schmerzsituation wird in der Pflege- und
Maßnahmenplanung nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt.
-
Relevante Veränderungen der Schmerzsituation
werden dem behandelnden Arzt nicht mitgeteilt.
-
Etwaige Nebenwirkungen der Schmerzmedikation
bleiben unbeachtet.
-
Bei Bewohnern mit akuten Schmerzen werden
keine Maßnahmen zur Schmerzlinderung durchgeführt oder eingeleitet.
Grundsätze:
-
Ein großer Teil der Senioren spricht das Thema
Schmerzen nicht von sich aus an. Dieses etwa, weil ihnen die
Gesundheitsprobleme peinlich sind oder weil sie einen
Krankenhausaufenthalt fürchten. Es ist daher Aufgabe der Pflegekräfte,
den Bewohner aktiv und gezielt nach Beschwerden zu befragen.
-
Allein die Tatsache, dass sich die Pflegekraft
um das Schmerzempfinden eines Bewohners sorgt, kann das
Vertrauensverhältnis deutlich stärken.
-
Die Schmerzanamnese ist nicht allein Aufgabe
des Arztes, da dieser den Bewohner jeweils nur für kurze Zeit sieht und
somit ohne unsere Hilfe kein vollständiges Bild erhalten kann.
-
Wir gehen vorurteilsfrei mit schmerzgeplagten
Bewohnern um. Wir respektieren es, wie der Bewohner mit Schmerzen
umgeht. Dieses auch dann, wenn wir die Vehemenz der Schmerzäußerungen
in Relation zur vermuteten Schmerzbelastung für übertrieben halten.
-
Im Zweifel ist die Selbsteinschätzung des
Bewohners die verlässlichere Quelle als die Fremdeinschätzung durch die
Pflegekraft.
-
Wenn ein Bewohner sagt, dass er unter Schmerzen
leidet, dann glauben wir ihm das. Der Schmerz ist ein subjektives
Geschehen. Er kann nur vom Bewohner selbst korrekt erfasst und
beschrieben werden. Alle Beobachtungen von Außenstehenden können daher
ungenau oder fehlerhaft sein.
-
Folgende Situation ist immer verdächtig: Der
Bewohner leidet unter einer schweren Erkrankung, die üblicherweise mit
einer erheblichen Schmerzbelastung verbunden ist. Der Bewohner gibt
jedoch an, keine Schmerzen zu haben. Hier muss immer geprüft werden, ob
der Bewohner den Schmerz lediglich verbirgt.
Ziele:
-
Die Intensität des Schmerzes wird korrekt
ermittelt.
-
Der Bewohner ist in der Lage, die Art, die
Intensität und die Lokalisation seiner Schmerzen korrekt zu benennen.
-
Wir erfahren, in welchem Maß der Schmerz die
Lebensqualität des Bewohners einschränkt.
-
Der Pflegebedürftige fühlt sich ernst genommen
und akzeptiert. Bei der Schmerztherapie hat er eine aktive Rolle.
-
Wir erfahren, ob und wie schnell die
Schmerzmittel wirken und wie lange deren Effekt anhält. Insbesondere
werden eine Über- und eine Unterdosierung vermieden.
-
Der Arzt wird mit fundierten und nachprüfbaren
Informationen versorgt, aufgrund derer er die beste Therapie wählen
kann. Die medikamentöse und die nicht-medikamentöse Therapie richten
sich nach der gefühlten Schmerzbelastung.
-
Wir sind in der Lage, über einen Zeitraum von
mehreren Monaten oder Jahren die Entwicklung des Schmerzes zu
beobachten.
Vorbereitung:
Organisation
-
Unser Personal wird regelmäßig zum Thema
Schmerzen geschult. Eine Pflegekraft wird zum Schmerzbeauftragten
fortgebildet.
-
Die Schmerzanamnese sollte stets von der
Bezugspflegekraft durchgeführt werden. Sie kennt den Bewohner am
besten. Wenn die Schmerzanamnese von verschiedenen Pflegekräften
durchgeführt wird, steigt zudem die Gefahr von Mess- und
Interpretationsfehlern.
-
Es ist wichtig, dass die Pflegekraft die
Sprache des Bewohners spricht. Der Kulturkreis des Bewohners muss der
Pflegekraft vertraut sein.
-
Wir streben Kooperationen mit Ärzten an, um
eine enge Zusammenarbeit bei der Schmerzbekämpfung zu ermöglichen.
Insbesondere wird der behandelnde Hausarzt nach dem Heimeinzug
kontaktiert und um pflegerelevante Informationen zur Schmerzbelastung
gebeten. Wird der Mediziner als Folge des Heimeinzugs gewechselt,
stellen wir sicher, dass der neue Arzt alle relevanten Daten zur
bisherigen Behandlung erhält. Er muss insbesondere wissen, welche
Schmerztherapien bislang probiert wurden und welche Erfolge diese
zeigten.
-
Wir suchen den Kontakt zu den Angehörigen. Wir
prüfen, ob diese über Informationen zur Schmerzbelastung des Bewohners
verfügen. Wichtig sind insbesondere Informationen über Schmerzepisoden
aus der Vergangenheit. Wir möchten ebenfalls erfahren, wie sich
Schmerzen beim Bewohner bemerkbar machen. Es kann darüber hinaus
sinnvoll sein, auch Angehörige in die Grundzüge der Schmerzanamnese
einzuführen und die Genauigkeit ihrer Beobachtungen zu verbessern.
-
Wenn der Bewohner unter einer fortgeschrittenen
demenziellen Erkrankung leidet, ist die Eigeneinschätzung nicht oder
nur teilweise sinnvoll. Daher ermitteln wir ggf. den kognitiven Status
eines Bewohners, etwa mittels des Werkzeugs "Mini-Mental-Status-Test".
-
Wir sensibilisieren auch andere Berufsgruppen,
etwa Hauswirtschaftskräfte oder Ergotherapeuten. Wir bitten diese,
entsprechende Beobachtungen an die Pflegekräfte weiterzugeben.
Indikation und
Frequenz der Anamnese
-
Die Schmerzen werden bei einem hinreichenden
Verdacht erfasst. Beispiel: Der Bewohner fragt die Pflegekraft, ob
diese "vielleicht ein gutes Mittel gegen Kopfschmerzen kennt".
-
Die Häufigkeit, mit der die Schmerzen erfasst
werden sollten, schwankt individuell. Grundsätzlich gilt: Je schlimmer
und wechselhafter der Schmerz ist, umso genauer muss die
Verlaufsbeobachtung erfolgen.
-
Bei jedem Bewohner, der neu in unsere
Einrichtung zieht, werden die Schmerzen erfasst. Der Bewohner wird zur
Schmerzbelastung und zu seinen Schmerzbewältigungsstrategien befragt.
Dieses etwa im Rahmen des Erstgesprächs oder während einer der ersten
Pflegevisiten. Wenn der Bewohner bereits mit einer Schmerzmedikation
bei uns einzieht, sollte eine Schmerzanamnese sofort erfolgen. Dieses
gilt auch, wenn der Bewohner unter Krankheiten leidet, die eine starke
Schmerzbelastung vermuten lassen.
-
Bei Bewohnern, die eine effektive und
nebenwirkungsarme Schmerzdauertherapie erhalten, reicht eine tägliche
Erfassung aus. Bei sehr konstanter Schmerzbelastung kann ggf. auch eine
Messung im Abstand von drei Tagen den Informationsbedarf decken.
-
Nach jeder Rückkehr aus dem Krankenhaus oder
aus einer Rehabilitationseinrichtung werden die Beschwerden ebenfalls
ermittelt.
-
Bei Beginn oder bei einer Änderung der
Schmerztherapie sind ggf. Messungen im Abstand von vier Stunden
sinnvoll.
-
Nach einem ambulant erfolgten chirurgischen
Eingriff erfolgt die Schmerzanamnese in den folgenden 48 Stunden im
Abstand von 2 Stunden.
-
Wenn der Bewohner nach akuten schweren
Schmerzen ein schnell wirkendes Medikament per Injektion erhält,
erfolgt die Schmerzanamnese 15 Minuten nach Verabreichung. Bei oraler
Vergabe prüfen wir nach 60 Minuten die Schmerzbelastung. Die
Aussagekraft der Schmerzerfassung ist höher, wenn vor der Applikation
des Analgetikums ebenfalls eine Anamnese erfolgt.
(Hinweis: Eine engmaschige Überprüfung bei chronischen Schmerzen ist
problematisch. Viele Betroffene haben effektive Ablenkungs- und
Verdrängungsmechanismen entwickelt. Bei einer Schmerzanamnese werden
sie an den Schmerz "erinnert", der dann umso heftiger empfunden wird.
Daher macht es Sinn, den Schmerz zu erfassen, wenn der Bewohner nach
der Befragung abgelenkt wird. Ein guter Zeitpunkt ist z. B. 19.50 Uhr,
wenn der Bewohner um 20 Uhr seinen Fernsehabend mit der Tagesschau
beginnt.)
Eine regelmäßige Schmerzanamnese ist nur bei Bewohnern notwendig, bei
denen eine relevante Wahrscheinlichkeit für chronische Beschwerden
besteht. Verschiedene Kriterien sind dabei wichtig:
-
Der Bewohner gibt an, wiederholt Schmerzen zu
haben.
-
Aus der Pflegedokumentation geht hervor, dass
der Bewohner regelmäßig über Schmerzen klagt.
-
Bei demenzkranken Bewohnern deuten
Verhaltensweisen auf eine möglicherweise bestehende Schmerzproblematik
hin (siehe unten).
-
Der Bewohner erhält regelmäßig schmerzlindernde
Medikamente.
-
Beim Bewohner kommen regelmäßig
nichtmedikamentöse Maßnahmen zur Schmerzlinderung zum Einsatz.
-
Es gibt andere Anzeichen für eine
Schmerzproblematik.
(Hinweis: Selbst Bewohner, bei denen ziemlich sicher keine chronische
Schmerzbelastung vorliegt, sollten einmal am Tag zum Befinden befragt
werden; also etwa direkt nach dem Aufstehen. Mitunter haben auch solche
Pflegebedürftige ständige Beschwerden, bei denen man es niemals
vermuten würde.)
Durchführung:
Lokalisation des
Schmerzes
Wir versuchen, den
genauen Ursprungsort des Schmerzes zu finden.
-
Ist der Schmerz genau lokalisierbar, etwa an
operierten Gelenken, Narben oder Wunden? Wir lassen den Bewohner mit
dem Finger auf den Schmerzpunkt zeigen.
-
Ist der Schmerz eher diffus, etwa bei
infektionsbedingten Gliederschmerzen?
-
Strahlt der Schmerz aus, etwa in den linken Arm
beim Herzinfarkt oder in das Ohr bei Zahnschmerzen?
Hinweis:
-
Oft wird übersehen, dass ein Bewohner an
mehreren Körperbereichen gleichzeitig Schmerzen hat. Wenn nur die
stärkste Schmerzquelle isoliert behandelt wird (etwa durch lokale
Maßnahmen), tritt die nächststärkere in den Vordergrund. Sinnvoll ist
dann oftmals eine systemische Behandlung aller Schmerzen.
Schmerzäußerungen
-
Hat der Bewohner von sich aus geäußert, dass er
Schmerzen hat? Oder hat der Bewohner versucht, dieses zu verbergen?
-
Gibt es nonverbale Schmerzsignale? Etwa:
-
jammern, wimmern, schreien oder weinen
-
reiben oder betasten einer bestimmten
Körperregion
-
erhöhter Muskeltonus
-
Abwehr eines jeden Versuchs der Pflegekraft,
sich einer bestimmten Körperstelle zu nähern; dieses etwa im Rahmen der
Grundpflege
-
Widerstand gegen jede Mobilisierung
-
Grimassen
-
gekrümmte Haltung oder Schonhaltung
-
häufiger Lagewechsel
-
Rückzug in ein dunkles Zimmer oder unter die
Bettdecke
-
Blässe
-
Tachykardie
-
Tachypnoe
-
Schweiß
-
Appetitlosigkeit
-
Unruhe
-
aggressives Verhalten
-
verminderte Gesprächsbereitschaft
(Hinweis: Bei Bewohnern mit chronischen Schmerzen lässt die von außen
sichtbare Symptomatik im Laufe der Jahre nach. Oft bleiben als
Anzeichen einer Schmerzbelastung kaum mehr als ein Stirnrunzeln, ein
Zucken der Mundwinkel oder ein abwesender Blick. Dieses erschwert eine
Einschätzung der Schmerzintensität. Ungeübte Betrachter können sogar
fälschlicherweise den Eindruck gewinnen, der Betroffene hätte gar keine
Beschwerden.)
Art des Schmerzes
Im Dialog mit dem
Bewohner versuchen wir zu erfassen, welche Art von Schmerzen der
Bewohner hat. Der Bewohner soll das Adjektiv wählen, das seiner Ansicht
nach seine Schmerzen am treffendsten beschreibt:
-
stechend (z. B. Organschmerz oder Pleurareizung)
-
brennend (innerlich z. B. Sodbrennen, äußerlich
z. B. Hautabschürfungen)
-
ziehend (z. B. Unterleibserkrankungen oder
Rückenschmerzen)
-
dumpf (z. B. Eingeweideschmerz)
-
schneidend (z. B. einseitiger Kopfschmerz)
-
reißend (z. B. bei Wunden)
-
hell (z. B. bei Verletzungen der Haut)
-
peitschenartig (z. B. akuter Verschluss einer
Arterie, die eine Extremität versorgt)
-
klopfend oder pulsierend (z. B. eitrige
Infektionen oder Migräne)
-
bohrend (z. B. Knochenhautschmerzen oder Tumore)
-
krampfartig (z. B. Gallenstein- oder
Nierensteinkoliken)
-
beklemmend (z. B. Herzerkrankungen)
Intensität des
Schmerzes
Wir versuchen, die
Schmerzintensität zu erfassen.
-
Wir verwenden dafür eine numerische
Analogskala. Es handelt sich dabei um eine Holz- oder Kunststofftafel,
innerhalb derer auf einer Schiene ein Zeiger bewegt werden kann. Dieser
Zeiger kann zwischen den Werten "0" ('kein Schmerz') bis "10"
('maximaler Schmerz') bewegt werden.
-
Die Nutzung einer Skala sollte frühzeitig
erfolgen, damit sich der Bewohner an dieses Instrument gewöhnt. Es ist
nachteilig, diese Skalen erst dann einzusetzen, wenn sich der Schmerz
bereits chronifiziert hat und ggf. auch eine Demenz fortschreitet.
-
Die Skalen können über eine Apotheke oder über
Onlineshops bezogen werden.
-
Bei der Befragung sollten wir uns an das
sprachliche und intellektuelle Niveau des Bewohners anpassen. Der
Begriff "Schmerz" ist häufig zu abstrakt. Geeigneter ist dann die
Formulierung "etwas tut weh".
-
Vor der ersten Anwendung der Skala wird das
System dem Bewohner erklärt. Wir stellen sicher, dass der Bewohner
dieses Werkzeug verstanden hat.
-
Eine Skala hat den Vorzug, dass sie es dem
Bewohner überhaupt erst ermöglicht, den Schmerz anderen zu
veranschaulichen. Beispiel: Die Pflegekraft fragt nach Schmerzen. Der
Bewohner antwortet, er habe keine. Hätte die Pflegekraft stattdessen
eine Skala angeboten, hätte sie jetzt ggf. erfahren, dass der Bewohner
seine Schmerzen mit drei von zehn Punkten bewertet. Er hat also
durchaus Schmerzen.
-
Bei der Intensitätserfassung gibt es zwei
Parameter, die separat erfasst werden müssen: Erstens: "Wie stark ist
der Schmerz in diesem Augenblick?" Zweitens: "Wie stark sind die
Beschwerden bei Schmerzspitzen?"
-
Dem Bewohner wird erklärt, dass er nur die
Schmerzbelastung, nicht aber seine allgemeine Befindlichkeit angeben
soll. Ansonsten könnten viele weitere Faktoren die Angaben verfälschen.
Als mögliche verzerrende Einflüsse kommen etwa Verdauungsprobleme oder
Stimmungsschwankungen in Betracht. Dieser Effekt tritt vor allem bei
Schmerzskalen mit Gesichtern auf. Ein weinendes Gesicht wird nicht als
Symbol für großen Schmerz, sondern als Zeichen für Trauer oder für
ähnliche Gefühle verstanden.
-
Die für den Bewohner einmal gewählte Skala wird
ohne zwingenden Grund nicht durch ein anderes Modell ersetzt. Der
genutzte Skalentyp wird in der Pflegedokumentation vermerkt.
Auslöser des
Schmerzes
Wir versuchen, den
Auslöser für den Schmerz zu finden. Dieser lässt Rückschlüsse auf die
körperliche Störung zu. Tritt der Schmerz auf …
-
zu bestimmten Tageszeiten (z. B. Wechselwirkung
von regelmäßig einzunehmenden Medikamenten)
-
nach bestimmten Ereignissen (z. B.
psychosomatische Beeinträchtigungen)
-
nach dem Essen (z. B. Magengeschwür)
-
nach körperlicher Anstrengung (z. B.
Herzerkrankung)
-
bei bestimmten Wetterlagen (z. B. rheumatische
Erkrankungen)
Weiteres
-
Der Bewohner soll erklären, ob er eigene
Theorien zur Ursache seiner diffusen Schmerzen hat.
-
Er soll angeben, welche Faktoren den Schmerz
lindern oder verschwinden lassen; etwa Musik hören oder lesen.
-
Wir stellen sicher, dass wir über alle nicht
verschreibungspflichtigen Schmerzmittel informiert sind, die der
Bewohner ohne ärztliche Anordnung einnimmt.
-
Wir fragen den Bewohner, ob er alternative
Therapien anwendet wie beispielsweise Phytotherapie (etwa
Johanniskraut), Homöopathie (etwa Arnica) oder Heilsteine
(Bergkristall, Turmalinquarz usw.). Der Bewohner soll beschreiben, ob
und wie diese Maßnahmen bei ihm wirken.
-
Welche Schmerzbelastung tritt auf bei
pflegerischen Maßnahmen (z. B. Mobilisation) oder bei medizinischen
Tätigkeiten (z. B. Verbandswechsel)?
Auswirkungen des
Schmerzes
-
Wirken sich die Schmerzen auf den Appetit oder
auf das Essverhalten aus?
-
Wirken sich die Schmerzen auf die Schlafdauer
und auf die Schlafqualität aus?
-
Schränkt der Bewohner sein Bewegungspensum ein?
-
Leidet die Kommunikation oder die soziale
Interaktion innerhalb der Heimgemeinschaft unter der Schmerzbelastung?
-
Haben die Schmerzen Auswirkungen auf die
mentale Stabilität des Bewohners?
Weitere für den
Schmerz relevante Faktoren
Wir erfassen weitere
Faktoren, die die Schmerzwahrnehmung beeinflussen.
-
Leidet der Bewohner unter innerer Anspannung?
-
Hat der Bewohner Angst oder Depressionen?
Dieses kann die Schmerzwahrnehmung verstärken.
-
Kennt der Bewohner den Auslöser des Schmerzes?
Ein Schmerz unbekannter Ursache wird häufig als stärker empfunden.
-
Wie wurde der Bewohner erzogen? Will er seine
Schmerzen zeigen oder verbergen?
-
Hat der Bewohner Befürchtungen, dass er
Angehörigen oder Pflegekräften zur Last fällt? Unterdrückt er aus
dieser Motivation heraus seine Schmerzen?
-
Welches Geschlecht hat der Bewohner? Frauen
tolerieren Schmerzen häufig besser als Männer.
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Woher stammt der Bewohner? Hat er einen
Migrationshintergrund? Menschen aus südlichen Ländern zeigen Schmerzen
in vielen Fällen offener, während Menschen aus nördlichen Ländern dazu
neigen, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen.
-
Hat der Bewohner ausreichend Vertrauen zu uns
gefasst? In vielen Fällen braucht es Wochen, bis sich der Bewohner so
weit öffnet, dass er mit uns über seine Beschwerden spricht.
-
Überhöht der Bewohner die Schmerzen, um
verschreibungspflichtige Medikamente zu erhalten? Besteht eine
Arzneimittelabhängigkeit?
-
Spielt der Bewohner die Schmerzbelastung
herunter, da er Angst vor den Nebenwirkungen einer Schmerztherapie hat?
-
Wie reagiert der Bewohner auf Ablenkung?
Vergisst er den Schmerz für eine Weile? Mangelnde Beschäftigung und
Langeweile verstärken die Schmerzwahrnehmung.
-
Wie lange hat der Bewohner schon Schmerzen? Je
länger der Schmerz dauert, umso stärker wird er oft empfunden.
-
Ist die Zeitwahrnehmung des Bewohners verändert?
-
Ist es möglich, dass der Bewohner die Schmerzen
als Strafe oder als Sühne begreift für eigenes Fehlverhalten?
-
Wie wird der Schmerz durch
Schmerzbewältigungsstrategien beeinflusst, die der Bewohner entwickelt
hat?
-
Akzeptiert der Bewohner Entspannungstechniken?
Welche Wirkung haben diese?
-
Nimmt der Schmerz zu, wenn sich der Bewohner
bewegt? Oder kann der Bewohner die Beschwerden durch Bewegung lindern
oder sich durch körperliche Aktivität davon ablenken?
-
Wie verändert sich der Schmerz nach
Lagewechseln?
-
Gab es in den letzten Jahren Erkrankungen oder
Operationen, die für den Schmerz relevant sein könnten?
-
Gab es in der Vergangenheit schon einmal eine
Schmerztherapie?
Einflussfaktoren
Pflegekräfte können
den Bewohner unbewusst und unterschwellig beeinflussen.
-
Die Pflegekraft ist von der Wirksamkeit einer
Maßnahme zur Schmerzlinderung überzeugt, obwohl diese beim Bewohner
nicht den gewünschten Effekt zeigt. Der Bewohner will die Pflegekraft
aber nicht "enttäuschen". Er gibt fälschlicherweise an, dass die
Schmerzen nachgelassen haben.
-
Die Pflegekraft ist biografischen, kulturellen
oder individuellen Einflüssen unterworfen, die die Erfassung der
Schmerzen des Bewohners beeinflussen. Beispiel: Der Bewohner nimmt
homöopathische Mittel ein. Er glaubt an die Wirkung und spürt
tatsächlich weniger Schmerzen. Die Pflegekraft hält alternative Medizin
für wenig effektiv und ist davon überzeugt, dass der Bewohner weiterhin
Schmerzen haben muss.
-
Die Pflegekraft möchte dem Bewohner bei der
Schmerzeinschätzung unterstützen und gibt ihm unbewusst Antworten vor.
Die Pflegekraft sollte daher möglichst offene Fragen stellen, also
"wann?", "wo?", "was?" und "wie oft?". Der Bewohner kann dann seine
Antworten eigenständig formulieren. Oder: Die Pflegekraft füllt
Körperskizzen für den Bewohner aus, weil dessen Feinmotorik
eingeschränkt ist. Dadurch wird die Lokalisation der Schmerzen
verfälscht.
Führen eines
Schmerztagebuchs
-
Ein Schmerztagebuch ist ein wichtiger und
unerlässlicher Therapiebegleiter für jeden betroffenen Bewohner und
eine wertvolle Informationsquelle für den Arzt.
-
Der Bewohner vermerkt darin sein
Schmerzerleben. Er trägt dort mehrmals täglich ein. Auch hier lauten
die zentralen Kriterien zur Schmerzdokumentation: Wann treten die
Beschwerden auf? Wo sind die Schmerzen am stärksten? Wie stark sind
sie? Welche Medikamente nimmt der Bewohner ein? Wie wirken die
Analgetika?
-
Falls es notwendig ist, führen wir gemeinsam
mit dem Bewohner parallel zur regulären Pflegedokumentation ein solches
Schmerztagebuch.
-
Das Buch sollte über einen Zeitraum von z. B.
14 Tagen geführt werden. Der Bewohner legt das Buch dem behandelnden
Arzt vor. Dieser kann dann seine Therapie optimieren und insbesondere
die Medikation besser auf das Schmerzempfinden abstimmen.
-
Zusätzlich dazu hilft ein Schmerztagebuch dem
Bewohner, seine Beschwerden selbst einzuschätzen und mögliche
Schmerzauslöser zu bestimmen. Der Bewohner merkt also, was ihm
Linderung verschafft. Er lernt, welche Begleitumstände die Schmerzen
für ihn erträglicher oder unerträglicher machen.
Nachbereitung:
-
Alle gewonnenen Informationen werden in der
Pflegedokumentation und ggf. im Schmerztagebuch festgehalten. (Hinweis:
Ein häufiger Fehler der Schmerzanamnese ist die Erhebung zu vieler
Daten. Die Dokumentation wird dadurch unübersichtlich. Es ist
hilfreicher, sich bei der Schmerzanamnese auf wenige, dafür prägnante
Faktoren zu konzentrieren.) Der Pflegekraft muss dabei bewusst sein,
dass die korrekte Dokumentation entscheidend für einen guten Wert bei
der Errechnung des Qualitätsindikators ist.
-
Der Gesundheitszustand von Bewohnern mit
Schmerzen wird regelmäßig in der Dienstübergabe und bei
Fallbesprechungen thematisiert.
-
Wir informieren den Hausarzt über alle
relevanten Veränderungen und leiten ggf. eine adäquate
Schmerzbehandlung ein. Eine angemessene ärztliche Reaktion auf die
Schmerzanamnese ist wichtig, da sich der Bewohner ansonsten nicht
ernstgenommen fühlen wird.
-
Wenn es hinreichende Anzeichen für eine akute
Gefährdung gibt, ist unverzüglich ein Notarzt zu rufen.
-
Die Pflege- und Maßnahmenplanung wird basierend
auf der Schmerzanamnese aktualisiert.
Dokumente:
-
Pflegedokumentation
-
Schmerztagebuch
-
Pflegeplanung / Maßnahmenplanung
Verantwortlichkeit
/ Qualifikation:
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