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Pflegestandard
"Vorgehen bei
akuter Verwirrtheit"
Nur
"akut verwirrt" oder "demenziell erkrankt"? Die korrekte Unterscheidung
dieser Diagnosen gelingt nicht immer. Und so entpuppt sich manch
"Alzheimer-Krankheit" bei genauer Betrachtung als Flüssigkeitsmangel,
als medikamentöse Wechselwirkung - oder als defektes Hörgerät.
Pflegestandard "Vorgehen bei
akuter Verwirrtheit"
Definition:
-
Akute Verwirrtheit (auch "Delir" oder
"delirantes Syndrom") beschreibt unvermittelt auftretende
Einschränkungen der Aufmerksamkeit, der kognitiven Fähigkeiten, des
Bewusstseins oder des Tag-Nacht-Rhythmus. Im Gegensatz zur chronischen
Verwirrtheit besteht das Krankheitsbild zumeist nur wenige Stunden oder
Tage. Es treten i.d.R. auch keine Sinnestäuschungen oder Verkennungen
auf.
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Auslöser der Verwirrtheit ist häufig eine
Funktionsbeeinträchtigung des Gehirns. Diese kann ihre Ursache wiederum
in verschiedensten Erkrankungen oder Störungen haben, also etwa
organische Hirnerkrankungen, Psychosen, Neurosen oder
Stoffwechselstörungen.
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Bei Senioren ist der bei Weitem häufigste
Auslöser ein Mangel an Flüssigkeit. Gewöhnlich jedoch ist die
Symptomatik multifaktoriell bedingt, es kommen also weitere Auslöser
hinzu, die die Desorientierung verstärken.
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Gehäuft tritt Desorientierung in den ersten
Tagen nach dem Heimeinzug auf. Der neue Bewohner verliert das Gefühl
für Tag und Nacht, ist sozial isoliert und leidet unter Zukunftssorgen.
Es kann zu aggressivem Verhalten kommen. Nicht selten verweigern
Betroffene die Nahrungsaufnahme sowie jede Kooperation bei der
Behandlung und bei der pflegerischen Versorgung.
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Die Fähigkeit, für die eigene Sicherheit zu
sorgen, ist im Zustand einer akuten Verwirrtheit erheblich reduziert.
Es kann somit jederzeit zu Unfällen z.B. im Haushalt oder im
Straßenverkehr kommen.
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Eine (prinzipiell heilbare) akute Verwirrtheit
wird häufig als (unheilbare) Demenz missdeutet. Die Folgen dieser
Fehldiagnose sind für den Betroffenen erheblich. Es kommt dann ggf. zur
Bestellung einer rechtlichen Betreuung, zur Fehlberatung von
Angehörigen sowie zu einer vermeidbaren stationären Versorgung. Das
wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen einer akuten Verwirrtheit
und Demenz ist die Geschwindigkeit, mit der die Symptome einsetzen. Bei
einer Demenz entwickeln sich die Einschränkungen langsam. Eine akute
Verwirrtheit setzt abrupt ein.
Grundsätze:
-
Mit der Diagnose "Verwirrtheit" ist stets
vorsichtig umzugehen. Allzu leicht werden auch solche Bewohner als
"verwirrt" bezeichnet, deren Verhalten lediglich von der Norm abweicht
und als unangemessen empfunden wird.
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Eine akute Verwirrtheit ist eine ernst zu
nehmende Gesundheitsstörung und keine unvermeidliche Begleiterscheinung
des Alterns. In jedem Fall muss der Auslöser ärztlich abgeklärt werden.
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Eine akute Verwirrtheit lässt sich im
Frühstadium aussichtsreicher behandeln. Daher achten wir aufmerksam auf
alle Anzeichen und nehmen diese ernst.
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Der Umgang mit akut verwirrten Senioren ist
häufig anstrengend und belastend, etwa weil diese fordernd oder gar
aggressiv handeln. Wir machen uns daher stets eines klar: Die Ursache
für das Verhalten des Bewohners ist kein böser Wille, sondern zumeist
Verunsicherung und Angst.
Ziele:
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Eine akute Verwirrtheit wird schnell als solche
erkannt und von ähnlichen Gesundheitsstörungen abgegrenzt.
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Die Ursachen für die akute Verwirrtheit werden
ermittelt und behandelt.
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Der Bewohner gewinnt die Orientierung möglichst
weitgehend wieder zurück.
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Der Bewohner gefährdet weder sich selbst noch
andere Personen.
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Der Bewohner hat keine Ängste.
Vorbereitung:
Vermeidung einer
akuten Verwirrtheit
-
Die primäre Prophylaxestrategie besteht in der
Identifizierung der möglichen Ursachen und - soweit möglich - deren
kausalen Therapie. Dazu zählen etwa die Sicherstellung der
Flüssigkeitsversorgung, eine lückenlose Insulintherapie bei
Diabetes-mellitus-Patienten, die Senkung von Fieber bei
Infektionskrankheiten usw. Darüber hinaus schaffen wir ein Umfeld, das
es dem Bewohner erleichtert, sich zu orientieren.
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Wir setzen das Konzept der Bezugspflege um,
halten damit also die Zahl der Bezugs- und Pflegepersonen möglichst
gering.
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Wir sorgen dafür, dass der Bewohner keinem
vermeidbaren Stress ausgesetzt wird. Wir planen die täglichen
Pflegemaßnahmen so, dass diese "am Stück" durchgeführt werden. Die
Ruhephasen des Bewohners sollten nicht immer wieder durch kurze
Pflegetätigkeiten unterbrochen werden.
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Wir führen ggf. ein
Realitäts-Orientierungs-Training durch. Wir geben unseren Bewohnern
eine laufende zeitliche Orientierung, etwa durch Abreißkalender, durch
große Uhren und durch eine jahreszeitliche Gestaltung der Wohnbereiche.
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Ein neuer Bewohner wird sorgfältig mit dem
Leben im Heim vertraut gemacht. Alle Pflegekräfte stellen sich immer
wieder mit Namen vor und tragen Namensschilder.
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Wir klären, wie alt die Brille des Bewohners
ist, und regen ggf. die Vorstellung beim Augenarzt an. Der Bewohner
sollte seine Brille stets tragen.
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Wir prüfen, ob das Hörgerät des Bewohners
angemessen und funktionstauglich ist. Der Bewohner sollte seine
Hörhilfen permanent und beidseitig nutzen.
-
Wir fördern die sozialen Kontakte unter den
Bewohnern. Zu beachten ist jedoch dabei, dass der enge Umgang mit
anderen desorientierten Senioren die Symptome bei akut verwirrten
Bewohnern eher verschlimmern wird.
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Ein Dämmerlicht hilft dem Bewohner nachts bei
der Orientierung und beugt Angstzuständen vor.
Symptome
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Wir achten intensiv auf Symptome, die für eine
einsetzende akute Verwirrtheit sprechen. Wichtig ist dabei immer der
Vergleich zum Verhalten, dass der Bewohner noch vor einigen Tagen
zeigte. Bei einer leichten Verwirrung sind die betroffenen Bewohner
häufig auf den ersten Blick unauffällig. Wenn die Pflegekraft sie
jedoch nach dem Namen der Einrichtung oder nach dem Wochentag fragt,
kennen sie die Antwort nicht.
-
Folgende Formen der Desorientierung sind
relevant:
-
Der Bewohner ist zeitlich verwirrt. Er kann
also z.B. das heutige Datum, das aktuelle Jahr oder die Jahreszeit
nicht benennen. Der Pflegebedürftige vergisst die Essenszeiten und
kommt nicht zu Verabredungen. Der Tag- und Nachtrhythmus ist gestört.
Der Bewohner ist also unruhig in der Nacht und schläfrig am Tag.
Typisch ist ständiges Fragen, etwa "Wann gibt es Mittagessen?" oder
"Wie spät ist es?".
-
Es kommt zu einer örtlichen Verwirrung. Der
Bewohner kennt seinen Aufenthaltsort nicht. Er glaubt, er wäre z.B. in
einem Hotel. Gemeinschaftsräume oder Toiletten werden nicht gefunden.
Der Bewohner findet sich im eigenen Zimmer nicht mehr zurecht. Er
verlegt Gegenstände und sucht stundenlang nach ihnen. Er erhebt
grundlose Diebstahlsvorwürfe gegen Mitbewohner oder gegen Pflegekräfte.
Sehr häufig kommt es zum Weglaufverhalten. Der Bewohner will "nach
Hause".
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Der Bewohner leidet unter einer personellen
Verwirrtheit. Es werden also Mitbewohner und Pflegekräfte verwechselt.
Bei gravierenderen Störungen werden Angehörige nicht erkannt. Typisch
bei verwirrten Senioren ist die plötzliche Nutzung einer ungewöhnlich
formellen Sprache, wie sie im Umgang mit völlig fremden Personen üblich
wäre. So werden also Freunde oder auch Verwandte gesiezt und mit
Aussagen konfrontiert wie: "Verlassen Sie sofort mein Haus. Ich kenne
Sie nicht." Ggf. vergisst der Bewohner den eigenen Namen.
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Es liegt eine situative Desorientierung vor.
Der Bewohner erfasst die Realität nicht mehr richtig. Er sieht sich
bedroht, etwa weil er den Krimi im Fernsehen für wirklich hält. Oder er
glaubt, dass er zur Arbeit gehen oder die Kinder von der Schule abholen
müsse.
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Der Bewohner zeigt sonstiges ungewöhnliches
Verhalten. Er hat einen erhöhten Bewegungsdrang, ist unruhig, schreit,
schimpft oder tobt. Pflegekräfte beobachten Schweißausbrüche, Zittern,
Hypertonie oder Tachykardie. Es kommt zu Wortfindungsproblemen,
Schwierigkeiten bei der Satzbildung oder zum vollständigen Verlust der
Sprachfähigkeit.
Durchführung:
Gefahreneinschätzung
-
Wenn eine akute Verwirrtheit festgestellt wird,
muss die Pflegekraft entscheiden, ob die Symptomatik ein Abwarten
rechtfertigt oder ob die Alarmierung des Notarztes angemessen ist.
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Wir warten nur dann zunächst ab, wenn folgende
Bedingungen erfüllt sind:
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Wir können mit hinreichender Sicherheit den
Auslöser benennen. Wir sind überdies in der Lage, die Ursache so weit
zu lindern, dass zeitnah mit einer Normalisierung der Situation zu
rechnen ist.
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Die Desorientierung trat in ähnlicher Form und
in vergleichbarer Intensität bereits in der Vergangenheit auf. Der
behandelnde Arzt hat eine Bedarfsmedikation angeordnet. Wir sind in der
Lage, diese sicher zu applizieren. Es ist wahrscheinlich, dass das
Medikament binnen kurzer Zeit den Zustand des Bewohners bessert.
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Die Symptomatik wirkt insgesamt nicht
bedrohlich. Insbesondere sind die Vitaldaten stabil.
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Ansonsten wird der Arzt bzw. der Notarzt über
den Zustand des Bewohners informiert. Wir vermeiden damit, dass bei
schweren Erkrankungen, wie etwa einer Hirnschädigung, wertvolle Zeit
vergeudet wird. Kriterien für einen Notruf sind:
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Die gemessenen Vitaldaten lassen auf eine akute
Gesundheitsgefährdung schließen.
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Die Verwirrtheit tritt erstmalig auf oder in
einer deutlich intensiveren Form als bislang beim Bewohner üblich.
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Pflegerische und medikamentöse Maßnahmen, die
in bisherigen Fällen die Situation normalisierten, sind in diesem Fall
wirkungslos.
Suche nach Auslösern
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Wir prüfen, ob der Bewohner an einer Exsikkose
leidet. Ein Flüssigkeitsmangel zeigt sich u.a. durch ausgetrocknete
Mundschleimhäute, eine trockene Zunge, verstärktes Durstgefühl und eine
konzentrierte und verminderte Urinausscheidung. Wir führen dem Bewohner
Flüssigkeit zu, erstellen einen Trinkplan und beobachten sein
Trinkverhalten. In Absprache mit dem behandelnden Arzt erfolgt ggf.
eine stationäre Infusionstherapie.
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Wir prüfen die Vitalzeichen. Wir achten
insbesondere auch auf Stoffwechselentgleisungen wie etwa Unterzuckerung
("Hypoglykämie") oder Überzuckerung ("Hyperglykämie"). Außerdem werden
der Puls, die Pulsqualität und der Blutdruck ermittelt.
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Wir prüfen, ob es Anzeichen für eine Infektion
gibt. Wir messen dafür insbesondere die Körpertemperatur. Wir achten
auf die Atmung (mögliche Lungenentzündung) und auf etwaige
Wundinfektionen.
-
Wichtig ist auch der Ausschluss von Harnverhalt
und Harnwegsinfektionen. Wir prüfen daher, ob der Bewohner Urin lassen
kann.
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Die Medikamentenversorgung der vergangenen 24
Stunden wird überprüft. Wir achten auf Nebenwirkungen,
Wechselwirkungen, Missbrauch oder Überdosierung. Dieses tritt vor allem
auf bei Beruhigungsmitteln (Sedativa), Schlafmitteln (Hypnotika) oder
schmerzstillenden Arzneimitteln (Analgetika). Wir prüfen auch, ob in
letzter Zeit Medikamente abgesetzt wurden, die ein Suchtpotenzial
aufweisen.
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Wir prüfen, ob Hinweise auf Drogen- oder
Alkoholmissbrauch vorliegen. Bei neu aufgenommenen Bewohnern prüfen
wir, ob diese unter Entzugserscheinungen leiden könnten. Wir
berücksichtigen, dass diese ggf. beim Heimeinzug heimlich einen Vorrat
an Rauschmitteln mitbrachten, der sich ggf. erst nach Wochen erschöpft
hat. Eine plötzliche Immobilität kann dazu führen, dass sich der
Bewohner nicht mehr außerhalb der Einrichtung mit Alkohol, mit
Zigaretten oder mit Drogen versorgen kann.
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Wir klären, ob der Bewohner eine Nachricht
erhalten hat, die erheblichen Stress verursachte. Dazu zählen etwa
ungünstige Krankheitsprognosen, der Tod einer engen Bezugsperson oder
Streit innerhalb der Familie.
Weitere Maßnahmen
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Basierend auf unseren Beobachtungen werden die
notwendigen Maßnahmen durchgeführt. Maßgeblich dabei sind die
entsprechenden Pflegestandards, etwa: Notfallstandard "Hypoglykämie",
Notfallstandard "Hyperglykämie", Notfallstandard "Hitzschlag",
Notfallstandard "Schlaganfall", Notfallstandard "Vergiftung mit
Sedativa" usw.
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Der Bewohner wird engmaschig überwacht. Falls
eine Krankenhauseinweisung erforderlich ist, bleibt die Pflegekraft
beim Bewohner bis zum Eintreffen des Arztes.
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Eine Sedierung mit niederpotenten Neuroleptika
oder mit Benzodiazepinen erhöht das Risiko einer Dekubitus-Entwicklung
sowie eines Sturzes.
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Eine zeitweilige Fixierung und andere
Zwangsmaßnahmen kommen nur ausnahmsweise zur Abwehr einer Fremd- oder
Eigengefährdung in Betracht. Und dieses auch nur dann, wenn zuvor alle
milderen Mittel erfolglos blieben.
Nachbereitung:
Allgemeine Maßnahmen
-
Alle gewonnenen Informationen werden in der
Pflegedokumentation festgehalten und dem Arzt mitgeteilt.
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In vielen Fällen können sich die Bewohner an
die Phase der Desorientierung nicht erinnern. Dieses ist etwa der Fall,
wenn die Verwirrtheit die Folge einer Hypoglykämie war. Eine solche
Gedächtnislücke kann Ängste auslösen. Diese werden verstärkt durch die
Angst, dass sich die Geschehnisse wiederholen. Viele Betroffene
streiten die Desorientierung vehement ab, weil ihnen ihr Verhalten
peinlich ist.
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Wir informieren die Angehörigen über den
Zustand des Bewohners. Wir beachten, dass diese durch die Vorkommnisse
unter hohem mentalen Stress stehen können.
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Sofern es uns gelang, den oder die Auslöser zu
bestimmen, wird die Pflegeplanung um entsprechende Prophylaxemaßnahmen
ergänzt. Falls die Ursache unbestimmt bliebt, muss in den folgenden
Wochen die Überwachung des Bewohners intensiviert werden.
Prognose
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Eine gezielte Behandlung ermöglicht in 19 von
20 Fällen eine deutliche Verbesserung oder Heilung der akuten
Verwirrtheit. Es ist dann mit einem Nachlassen der akuten Störungen
innerhalb von Stunden oder von Tagen zu rechnen.
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Unterbleibt die ursächliche Therapie, sinkt die
Chance auf Reduktion der Auffälligkeiten. Es besteht überdies eine
erhöhte Mortalität, da in vielen Fällen eine bedrohliche
Grunderkrankung vorliegt: Deren Fortschreiten wird als Ursache für die
Verwirrung nicht erkannt und folglich auch nicht therapiert.
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Oft weist eine akute Desorientierung auf eine
bislang maskierte Demenz im Frühstadium hin. Es ist also damit zu
rechnen, dass sich die bislang akute Symptomatik in den folgenden
Monaten chronifiziert.
Dokumente:
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Pflegebericht
-
Pflegeplanung
Verantwortlichkeit
/ Qualifikation:
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