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Version 2.31g

Standard "Pflege von Senioren mit Verwahrlosungstendenzen"

 
Für das "Reality-TV" der privaten Fernsehsender gibt es keine besseren Schauobjekte als "Messis": Zerlumpte Menschen in zugemüllten Wohnungen. Wer den Anblick nicht erträgt, drückt einfach einen Knopf auf der Fernbedienung. So einen Schalter wünschen sich viele Pflegekräfte auch, wenn sie betroffene Senioren versorgen müssen.
 

Wichtige Hinweise:

  • Zweck unseres Musters ist es nicht, unverändert in das QM-Handbuch kopiert zu werden. Dieser Pflegestandard muss in einem Qualitätszirkel diskutiert und an die Gegebenheiten vor Ort anpasst werden.
  • Unverzichtbar ist immer auch eine inhaltliche Beteiligung der jeweiligen Haus- und Fachärzte, da einzelne Maßnahmen vom Arzt angeordnet werden müssen. Außerdem sind etwa einige Maßnahmen bei bestimmten Krankheitsbildern kontraindiziert.
  • Dieser Standard eignet sich für die ambulante und stationäre Pflege. Einzelne Begriffe müssen jedoch ggf. ausgewechselt werden, etwa "Bewohner" gegen "Patient".

 

Dieses Dokument ist auch als Word-Dokument (doc-Format) verfügbar. Klicken Sie hier!
 
Standard "Pflege von Senioren mit Verwahrlosungstendenzen"
Definition:
  • Die Verwahrlosung (auch "Vermüllungssyndrom", "senile Verwahrlosung" oder "Diogenes-Syndrom") zählt zu den Persönlichkeitsstörungen. Erkrankte vernachlässigen sich selbst und lassen ihre häusliche Umgebung verkommen. Das Ausmaß der Vernachlässigung geht über das hinaus, was gesellschaftlich als bloße "Ungepflegtheit" toleriert wird.
  • Auslöser für die Erkrankung sind häufig einschneidende Erlebnisse in der Kindheit oder im späteren Erwachsenenleben sowie Vereinsamung und mentaler Stress. Zahlreiche psychische Erkrankungen wie Schizophrenie, Depressionen oder Suchterkrankungen können ebenfalls Verwahrlosung zur Folge haben.
  • Es gibt kein wissenschaftlich anerkanntes Assessmentinstrument, um die Verwahrlosungsgefahr oder eine bereits eingetretene Verwahrlosung objektiv zu erfassen. Es liegt daher an den Pflegekräften und dem behandelnden Arzt, anhand der eigenen Lebenserfahrung und Wertmaßstäbe den Zustand des Patienten einzuordnen.
  • Die Vermüllung einer Mietwohnung stellt nicht nur ein hygienisches Problem dar, sondern kann für den Patienten auch rechtliche Folgen haben. Der Vermieter kann z.B. nach Beschwerden von Nachbarn den Mietvertrag kündigen. Der Patient würde dadurch letztlich obdachlos und müsste stationär versorgt werden.
Grundsätze:
  • Wir respektieren das Recht des Patienten auf eine freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Sofern sein Handeln weder für ihn selbst noch für Dritte eine Belästigung oder eine Gefahr darstellt, tolerieren wir seinen Lebensstil.
  • Wir betrachten Verwahrlosung nicht als selbst gewähltes oder selbst verschuldetes Schicksal, sondern als Krankheit. Es ist unsere Aufgabe, das Leiden der Betroffenen zu lindern.
  • Für den betroffenen Patienten sind wir oftmals "unwillkommene Helfer". Unser Bestreben, dem Leben des Senioren wieder Ordnung und Struktur zurückzugeben, wird uns früher oder später in eine Konfliktsituation mit dem Patienten bringen. Wir müssen uns immer bewusst sein, dass es dann zu beleidigenden Äußerungen, zu passivem oder aktivem Widerstand kommen kann. Es zählt zu unserem Verständnis von professioneller Arbeit, dass wir in solchen Streitsituationen dem Patienten immer mit Akzeptanz und Wohlwollen begegnen.
  • Wir arbeiten eng mit Hausärzten und Selbsthilfegruppen zusammen.
  • Wenn wir gemeinsam mit dem Patienten Regeln zur Lebensführung aufstellen, ist Konsequenz wichtig. Absprachen werden von der Pflegekraft konsequent eingefordert.
  • Bei der Betreuung von verwahrlosten Senioren gibt es eine Belastungsgrenze für Pflegekräfte. Wird diese dauerhaft überschritten, muss der Pflegeauftrag ggf. überdacht werden.
Ziele:
  • Eine Überforderung der Pflegekräfte wird vermieden.
  • Eine Verwahrlosung wird frühzeitig erkannt.
  • Die Ursachen der Verwahrlosung werden korrekt bestimmt und soweit möglich beseitigt oder gemildert.
  • Eine soziale Isolation wird vermieden.
  • Hautschädigungen als Folge der mangelnden Körperpflege werden frühzeitig bemerkt und angemessen behandelt.
  • Nachbarn werden nicht durch gesammelten Müll belästigt. Die Kündigung des Mietverhältnisses durch den Vermieter wird vermieden.
  • Eine stationäre Versorgung des Patienten etwa in einer psychiatrischen Fachklinik wird vermieden.
  • Der Patient wird in die Lage versetzt, wieder ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben zu führen. Sein Selbstwertgefühl wird gestärkt.
Vorbereitung:  allgemeine Maßnahmen
  • Unser Personal wird regelmäßig zum Thema Verwahrlosung fortgebildet.
  • Der Umgang mit verwahrlosten Patienten wird regelmäßig in Rollenspielen geübt.
  • Zwei Pflegefachkräfte unserer Einrichtung verfügen über eine Weiterbildung zur gerontopsychiatrischen Fachkraft.
  • Wir erweitern unsere Bibliothek regelmäßig um aktuelle Fachbücher zu diesem Thema. Wir ermuntern unsere Pflegekräfte, diese Bücher zu lesen.
 Selbsteinschätzung  Es gibt keine wissenschaftliche Abgrenzung zwischen einem "alternativen Lebensstil" und Verwahrlosung. Daher sollten Pflegekräfte zuerst ihre eigenen Gedanken reflektieren, bevor sie andere Menschen als "verwahrlost" betrachten. Folgende Fragen sollte jeder für sich selbst beantworten:
  • Wann ist eine Wohnung nur unordentlich und ab wann vermüllt?
  • Wann wird Sammeln zum krankhaften Sammeln?
  • Welches Maß an Körperpflege ist normal? Ab wann kann mangelnde Körperpflege nicht mehr toleriert werden?
  • Darf ein Mensch in einer selbst gewählten Isolation leben?
 Anforderungen an die Pflegekräfte  Die Versorgung von Senioren mit Verwahrlosungstendenzen zählt zu den herausforderndsten Aufgaben in der Altenpflege.

  • Die Pflegekraft muss in der Lage sein, Ekelgefühle zu unterdrücken. Vor allem infizierte oder von Maden befallene Wunden sind selbst für Pflegeprofis ein fast unerträglicher Anblick.
  • Die Pflegekraft muss in der Lage sein, die richtige Balance aus Durchsetzungsvermögen und zwischenmenschlicher Wärme zu finden.
  • Die Pflegekraft sollte Erfahrung als Bezugspflegekraft haben.
  • Berufseinsteiger sollten zunächst keine Senioren mit Verwahrlosungstendenzen versorgen.
Durchführung:  Einschätzung der Verwahrlosung
  • Wir versuchen abzuschätzen, welches Maß die Verwahrlosung angenommen hat. Unsere Beobachtungen sind z.B. später relevant bei der Frage, ob der Patient einen Betreuer benötigt.
  • Im Anfangsstadium kann die Verwahrlosung nur in Teilbereichen auftreten. Der Patient selbst kann also einen gepflegten Eindruck machen, während sein Wohnraum zusehends vermüllt.
  • Häufig ist aber auch bereits ein starker Schweißgeruch feststellbar. Das Haar ist fettig. Die Kleidung ist verschmutzt.
Bei einer fortgeschrittenen Verwahrlosung sind mehrere dieser Punkte vollständig erfüllt:
  • Verwahrlosung des Wohnbereiches: Die Zimmer sind mit Staub, Unrat und ggf. mit Kot verdreckt. Es gibt Ungeziefer. Ein stechender Geruch ist wahrzunehmen. Die Beleuchtung und die sanitären Anlagen funktionieren nicht. Die Nahrungsmittel in der Küche sind verdorben.
  • Verwahrlosung des Körpers: Die Haare, Fuß- und Fingernägel sowie die Haut sind ungepflegt. Die Zähne sind stark von Karies befallen. Die Kleidung ist ungewaschen und in einem schlechten Zustand. Es sind häufig chronische Wunden, Hautkrankheiten oder Parasiten zu finden. Der Patient ist fehl- oder mangelernährt.
  • Der Patient lebt allein, etwa weil der Lebenspartner verstorben ist oder sich scheiden ließ. Der Kontakt zu Verwandten ist abgebrochen. Hilfsangebote von Bekannten, Freunden oder Nachbarn lehnt der Erkrankte ab. Der Betroffene meidet komplett den Kontakt mit anderen Menschen.
  • Der Patient sammelt verschiedene Gegenstände in einem überbordenden Maß. Schränke, Regale und Truhen können die Mengen nicht mehr aufnehmen. Die Gegenstände stapeln sich bis unter die Decke und reduzieren die Wohnfläche auf enge Korridore.
  • Die Gegenstände stammen von der Straße und sind offensichtlich wertlos.
  • Der Patient verweigert sich allen Hilfsangeboten.
  • Der Patient reagiert panisch oder aggressiv, sobald die Pflegekraft den Müll wegräumen will. Der Patient befürchtet, dass dabei "etwas Wertvolles" entsorgt werden könnte.
 Informationssammlung  Wir sammeln weitere Informationen, die für die Einschätzung wichtig sein können. Etwa:
  • Gibt es biografische Hinweise auf eine Vernachlässigung in der Kindheit?
  • Gibt es biografische Hinweise auf traumatisierende Lebenserfahrungen, wie z.B. Vertreibung, Kriegserlebnisse oder sexuellen Missbrauch?
  • Macht der Patient relevante Angaben zur Selbsteinschätzung? Äußert er, dass er mit der Lebensführung überfordert ist?
  • Leidet der Patient unter Demenz?
  • Zeigte der Patient in den letzten Monaten Anzeichen einer Depression?
  • Besteht eine Alkohol-, Drogen- oder Medikamentensucht?
  • Leidet der Patient unter Bewegungseinschränkungen oder chronischen Schmerzen?
  • Ist das Schmerzempfinden herabgesetzt?
 Handeln bei vorliegender Vernachlässigung
  • Wir suchen den Kontakt zu dem Patienten. Nur wenn ein Vertrauensverhältnis besteht, kann die Pflegekraft das wahre Ausmaß der Verwahrlosung abschätzen.

  • Bei zwanghaftem Sammeln lassen wir uns z.B. erklären, welche Beziehung der Patient zu den jeweiligen Gegenständen hat.
  • Wir versuchen Absprachen mit dem Patienten zu treffen. Diese können umfassen:
    • regelmäßige Körperpflege, also etwa einen festen Badetermin in der Woche
    • regelmäßiger Wechsel von Kleidung, die von der Pflegekraft bereitgelegt wird
    • angemessene Ernährung
    • Aufräumen des Zimmers und der Schränke
    • Entsorgen von Müll und Auflösung von Sammellagern
  • Falls eine Fehlernährung vorliegt, prüfen wir die Notwendigkeit der externen Speisenversorgung ("Essen auf Rädern").
  • Wir suchen den Kontakt zu den Angehörigen. Oftmals haben diese den Umgang mit dem verwahrlosten Senioren schon vor Jahren auf ein Minimum reduziert. Gleichwohl haben sie noch am ehesten Einfluss auf den Patienten. Wir nutzen die noch vorhandene Bindung, um Vereinbarungen und Absprachen durchzusetzen.
  • Wir prüfen, ob der Patient andere Autoritätspersonen akzeptiert, mit deren Hilfe wir auf eine Verhaltensanpassung drängen können. Dieses kann etwa der behandelnde Arzt sein oder bei religiösen Menschen ein Geistlicher.
  • Wir prüfen, ob die Nachbarschaftshilfe oder ähnliche Vereine unterstützend eingreifen können.
  • Wir kontaktieren den Vermieter. Häufig ist es sinnvoll, die Wohnung komplett zu entrümpeln, zu renovieren und auf diese Weise einen klaren Schnitt zu machen. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Pflegekraft und Patient damit nachhaltig gestört seit wird.
  • Wir prüfen, ob die Einleitung eines Betreuungsverfahrens sinnvoll ist.
  • Bei unhaltbaren hygienischen Zuständen dokumentieren wie dies und informieren schriftlich den Patienten, ggf. den Partner, Angehörige, den behandelnden Hausarzt, die Kostenträger sowie das Gesundheitsamt. Damit sichern wir uns gegen etwaige Vorhaltungen ab.
 Pflegemaßnahmen
  • Die Überprüfung des Hautzustandes ist besonders wichtig. Es ist mit Hautdefekten und mit lokalen Infektionen zu rechnen, die ggf. mit Salben behandelt werden müssen. Wir beachten die entsprechenden Standards, etwa "Pflege von Senioren mit Mykosen (Pilzerkrankungen)" oder "Intertrigoprophylaxe und -behandlung".
  • Wir prüfen, ob ein Parasitenbefall vorliegt. In diesem Fall müssen die entsprechenden Standards umgesetzt werden, also etwa "Pflege von Senioren mit Läusebefall" oder "Umgang mit Scabies (Krätze)".
  • Nabelstein muss vorsichtig entfernt werden.
  • Aufgrund der mangelhaften Intimhygiene ist mit vermehrt auftretenden Harnwegsinfektionen zu rechnen.
  • Die Hände müssen von zu langen Fingernägeln befreit werden. Diese wachsen bei entsprechender Länge nach unten und bilden Krallen aus.
  • Die Fußnägel werden ebenfalls geschnitten. Wir prüfen, ob es an den Zehen zu Schädigungen gekommen ist. Oft zeigen sich hier Entzündungen.
  • Sehr wichtig ist eine Beseitigung der gravierendsten Kariesschäden. Senioren mit einem schlechten Zahnstatus verzichten wegen der Schmerzen oft auf jede Mundpflege. Auch Fehlernährungen sind häufig auf Zahnschmerzen beim Essen zurückzuführen.
  • Wir bleiben im Umgang mit dem Patienten stets taktvoll. Vorhaltungen etwa zum Zustand der Kleidung, zur Raumhygiene oder zur Körperpflege könnten den Betroffenen beleidigen. Es ist besser, ihm stattdessen Angebote zu machen. So kann dem Betroffenen ein Vollbad angeboten werden mit der Begründung, dass dieses ihn entspannen würde. Gleichzeitig dient ein solches Bad natürlich auch der Körperpflege. Zudem kann die Pflegekraft dabei den Hautstatus erfassen.
  • Wir prüfen, ob die Verwahrlosung die Folge einer psychischen Erkrankung ist, die auf eine medikamentöse Therapie anspricht. Antidepressiva können bei Depressionen oder bei Zwangskrankheiten auch die Verwahrlosungstendenzen mildern.
 Eigenschutz Unsere Möglichkeiten zur Betreuung von Verwahrlosten sind begrenzt. Zudem steht die Sicherheit unserer Mitarbeiter an erster Stelle. Wir werden daher unverzüglich die Einweisung in eine stationäre psychiatrische Einrichtung einleiten, wenn der Patient
  • Gewalt glaubhaft androht oder tatsächlich gewalttätig wird
  • Personen tätlich sexuell belästigt
  • fortgesetzt Drogen oder große Mengen Alkohol einnimmt.
Nachbereitung:  Prognose
  •  In rund 50 Prozent aller Fälle akzeptieren Betroffene die Notwendigkeit einer Psychotherapie. In der Folge zeigen sich zumeist kleinere Verbesserungen im Verhalten, wenngleich eine vollständige Heilung die Ausnahme bleibt.
  • Die andere Hälfte verweigert sich jeder Hilfe. Da eine Psychotherapie ohne Kooperation sinnlos ist, bleiben als letzte Möglichkeit Zwangsmaßnahmen wie die Einweisung in eine stationäre psychiatrische Einrichtung. Unterbleibt auch diese, drohen weitere Verwahrlosung, Krankheit und Tod.
  • Die zwangsweise Säuberung einer Wohnung hat i.d.R. nur einen temporären Effekt. Wenn dem Sammeln von Unrat nicht von Beginn an konsequent entgegengetreten wird, ist mit erneuter Vermüllung zu rechnen.
 weitere Maßnahmen
  • Wir bieten unseren Pflegekräften regelmäßig Supervision an, um die mentalen Belastungen im Umgang mit verwahrlosten Patienten zu verarbeiten.
  • Etwaig aufgetretene Probleme werden im Qualitätszirkel thematisiert.
  • Alle Beobachtungen werden genau dokumentiert. Die Beschreibung erfolgt wertfrei. Wir achten insbesondere auf Veränderungen im Verhalten des Patienten.
  • Die Pflegeplanung wird regelmäßig an die aktuellen Gegebenheiten angepasst.
Dokumente:  Pflegedokumentation
Verantwortlichkeit / Qualifikation:  alle Mitarbeiter
 
 
 
 
Weitere Informationen zu diesem Thema
Schlüsselwörter für diese Seite Aggression; Gewalt; Demenz; Gerontopsychiatrie; Verwahrlosung
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