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Version 2.05a - 2017

Standard "Pflege von Senioren mit Benzodiazepinabhängigkeit"

 
Obwohl die Gefahren seit Jahrzehnten bekannt sind, werden Benzodiazepine noch immer in rauen Mengen verschrieben. Bei der Versorgung der süchtigen Senioren sind Pflegekräfte oftmals auf sich gestellt. Der alte Mensch fühlt sich eigentlich wohl und will auf seine “Glückspillen” nicht verzichten. Für die Angehörigen ist das alles ohnehin nur "halb so schlimm". Und vom Hausarzt, der jahrelang den Tablettennachschub organisierte, ist erst recht keine Hilfe zu erwarten.
 

Wichtige Hinweise:

  • Zweck unseres Musters ist es nicht, unverändert in das QM-Handbuch kopiert zu werden. Dieser Pflegestandard muss in einem Qualitätszirkel diskutiert und an die Gegebenheiten vor Ort anpasst werden.
  • Unverzichtbar ist immer auch eine inhaltliche Beteiligung der jeweiligen Haus- und Fachärzte, da einzelne Maßnahmen vom Arzt angeordnet werden müssen. Außerdem sind etwa einige Maßnahmen bei bestimmten Krankheitsbildern kontraindiziert.
  • Dieser Standard eignet sich für die ambulante und stationäre Pflege. Einzelne Begriffe müssen jedoch ggf. ausgewechselt werden, etwa "Bewohner" gegen "Patient".


Dieses Dokument ist auch als Word-Dokument (doc-Format) verfügbar. Klicken Sie hier!

 

Standard "Pflege von Senioren mit Benzodiazepinabhängigkeit"
Definition:
  • Benzodiazepine wirken Angst lösend, muskelentspannend und sedierend. Diese Psychopharmaka werden oft eingesetzt, um Schlaf- und Angststörungen zu therapieren. Vor allem Senioren, die unter anhaltenden Panikschüben leiden, erfahren durch die Einnahme eine deutliche Steigerung der Lebensqualität. Jedoch setzt schon nach wenigen Wochen eine Gewöhnung und letztlich auch eine Abhängigkeit ein.
  • Weitere Gesundheitsrisiken ergeben sich aus der hohen Wirkstoffkumulation. Selbst bei gesunden Menschen beträgt die Halbwertszeit der meisten Benzodiazepine mindestens 20 Stunden, oft sogar 100 und mehr Stunden. Die Wirkstoffe werden also nur langsam abgebaut und sammeln sich im Körper des Senioren an. In der Folge kommt es zu einer schleichenden Intoxikation (Überdosis) mit typischen Symptomen wie Schläfrigkeit, Teilnahmslosigkeit und einer erhöhten Sturzanfälligkeit. Diese negativen Effekte werden durch parallelen Alkoholkonsum erheblich gesteigert.
  • Benzodiazepine zählen in Deutschland zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Nach aktuellen Schätzungen ist davon auszugehen, dass jede zehnte ältere Frau ein solches Präparat dauerhaft einnimmt.
  • Wir unterscheiden zwischen zwei Formen der Abhängigkeit:
    • Bei der Niedrigdosisabhängigkeit bleibt der betroffene Bewohner ohne Ausfälle. Die Sucht ist entsprechend schwer als solche zu erkennen, zumal der Bewohner über einen längeren Zeitraum mit der ursprünglich verschriebenen Dosis auskommt. Erst wenn das Medikament abgesetzt wird, zeigen sich Symptome ähnlich wie bei einem Alkoholentzug.
    • Bei der Hochdosisabhängigkeit kommt es zu einer stetigen Dosissteigerung. Der Bewohner verliert mehr und mehr seine Alltagskompetenz. Er wird vergesslich, ungeschickt und lallt. Der Gang ist schwankend.
  • Fast immer erhalten die Bewohner die Arzneimittel auf ärztliche Verschreibung und somit legal. Eine Beschaffungskriminalität (wie bei illegalen Drogen) gibt es nahezu nicht.
  • Die Mehrzahl der Süchtigen ist älter als 50 Jahre, ein Drittel ist älter als 70 Jahre. Die meisten betroffenen Bewohner sind sich der Risiken nicht bewusst. Hauptgrund dafür ist, dass die Benzodiazepine vom Arzt verordnet werden. Die Einnahme ist quasi medizinisch “abgesegnet”.
  • Im Gegensatz zu jungen Menschen gehen die meisten älteren Benzodiazepinabhängigen vergleichsweise sorgfältig mit dem Suchtmittel um. Hochdosisabhängigkeiten sind selten. Deutlich häufiger treten Niedrigdosisabhängigkeiten auf.
  • Bei den meisten Benzodiazepinabhängigen liegt nur eine geringe Krankheitseinsicht vor. Der Leidensdruck unter der Medikamenteneinnahme ist gering. Die Entzugsbeschwerden hingegen werden als überaus gravierend wahrgenommen. Entsprechend gering ist zumeist die Bereitschaft zur Kooperation.
Grundsätze:
  • Die Maxime “Einmal verordnet, immer verordnet!” ist bei Benzodiazepinen falsch und gefährlich.
  • Ärzte, die von der Sucht des Bewohners wissen und dennoch unreflektiert Benzodiazepine verschreiben, handeln fahrlässig. Es dient dem Wohl des Bewohners, einen solchen Arzt schnellstmöglich zu wechseln.
  • Medikamentenmissbrauch ist ebenso schädlich wie Drogensucht.
  • Benzodiazepinabhängigkeit ist kein Tabuthema. Wir sprechen diese Krankheit offen an und verheimlichen sie nicht.
  • Unsere Möglichkeiten zur Bekämpfung von Benzodiazepinabhängigkeit sind begrenzt. Wenn unsere Mittel nicht reichen, prüfen wir eine Überstellung des Bewohners an eine Fachklinik.
  • Wir enthalten uns jeder moralischen Bewertung zum Verhalten des Suchtkranken. Unabhängig von der Verschuldensfrage leisten wir jedes uns mögliche Maß an Hilfe.
Ziele:
  • Eine Benzodiazepinabhängigkeit wird noch vor dem Heimeinzug korrekt erkannt. Ein "kalter Entzug" wird vermieden.
  • Dem Bewohner wird bewusst gemacht, dass er von diesen Medikamenten abhängig ist. Er versteht, dass er die Sucht überwinden muss.
  • Durch eine kontinuierliche Dosisreduzierung wird die täglich applizierte Wirkstoffmenge reduziert. Letztlich überwindet der Bewohner die Sucht.
  • Falls keine Entzugsbehandlung möglich ist, werden die Nebenwirkungen eines dauerhaften Benzodiazepinkonsums auf ein Minimum reduziert.
Vorbereitung: allgemeine Maßnahmen
  • Die Verwendung von Benzodiazepinen wird in unserem Haus möglichst restriktiv gehandhabt. Ältere Menschen sollten lediglich die Hälfte der Dosis erhalten, die für jüngere Erwachsene vorgesehen ist. Die Applikation sollte auf einen Zeitraum von vier Wochen beschränkt sein. Eine Verlängerung ist nur in Ausnahmefällen sinnvoll. Parallel zur Anwendung sollte stets nach der Ursache für die psychische Veränderung beim Bewohner gesucht werden, die den Einsatz der Benzodiazepine auslöste.
  • Der Gesundheitszustand und das Verhalten des abhängigen Bewohners werden regelmäßig in Fallbesprechungen thematisiert. Es ist wichtig, eine einheitliche Vorgehensweise innerhalb des Teams sicherzustellen.
  • Wir haben das System der Bezugspflege umgesetzt. Die feste Zuordnung einer Pflegekraft zu einem Bewohner fördert die Entwicklung eines vertrauensvollen Verhältnisses.
Entzugsproblematik nach Heimeinzug
  • Bei vielen abhängigen Senioren kommt es nach dem Heimeinzug zu einem ungewollten "kalten Entzug". Der alte Mensch kann oft seinen vertrauten Arzt nicht mehr aufsuchen und ist somit vom Medikamentennachschub abgeschnitten. In der Folge kommt es zu Entzugserscheinungen, die von den Pflegekräften in Unkenntnis der Sucht falsch gedeutet werden. Ein abruptes Absetzen des Wirkstoffs kann letztlich zum Delirium und zu epileptischen Anfällen führen. Es besteht Lebensgefahr.
  • Das Einsetzen des "kalten Entzugs" ist abhängig vom Umfang der noch vorhandenen Medikamentenreserven, die ggf. erheblich sind.
  • Wir fragen den Senioren und seine Angehörigen im Rahmen des Erstgesprächs nach einer etwaigen Suchtproblematik. Wir kontaktieren ggf. den zuvor behandelnden Arzt. Ein deutliches Warnzeichen für eine Benzodiazepinabhängigkeit ist eine andere bekannte Suchterkrankung in der Biografie des Bewohners, sei es eine Alkohol- oder eine Drogenabhängigkeit.
  • Einige Wochen nach dem Heimeinzug hat sich oftmals zwischen dem Bewohner und der Bezugspflegekraft bereits ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Die Bezugspflegekraft sollte daher im Verdachtsfall erneut das Thema offen ansprechen.
  • Wir achten auf die typischen Anzeichen eines "kalten" Benzodiazepinentzugs. Insbesondere wenn mehrere dieser Symptome beobachtet werden, muss eine Pflegekraft immer eine Abhängigkeit in Betracht ziehen und ggf. den Arzt diesbezüglich ansprechen.
    • Schwitzen
    • Bewegungsstörungen
    • Muskelverspannung, Muskelzittern und Muskelkrämpfe
    • Krampfanfälle und Myoklonien (rasche unwillkürliche Muskelzuckungen)
    • Ataxie und Koordinationsstörungen
    • Tremor
    • Schlafstörungen insbesondere durch Albträume
    • gesteigerte Irritierbarkeit
    • Ängste und Panikattacken
    • Unruhe, Übererregbarkeit
    • Affekt- und Antriebsstörungen
    • Reizbarkeit und aggressives Verhalten
    • Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, abdominelle Krämpfe
    • Appetitlosigkeit und deutliche Gewichtsreduktion
    • Schwindelgefühle sowie Kopf- und Gliederschmerzen
    • Sehstörungen (Doppeltsehen)
    • Tachykardie und “Herzklopfen”
    • Müdigkeit
    • Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen
    • Depersonalisation (Verlust oder Veränderung des Persönlichkeitsgefühls) und Derealisation (verfremdete Wahrnehmung der Umwelt)
    • Wahrnehmungsverzerrungen, also Illusionen und Halluzinationen
    • Entzugspsychosen, etwa als paranoides oder depressives Verhalten
    • Reizüberempfindlichkeit
    • Dysästhesien (Empfindungsstörungen, etwa als Überempfindlichkeit auf Berührung)
    • Delirium
  • Bei vielen Betroffenen führt das Auftreten von Entzugserscheinungen keineswegs dazu, dass diese den Benzodiazepinkonsum überdenken. Tatsächlich fühlen sie sich zumeist in der Annahme bestätigt, dass sie diese Medikamente tatsächlich benötigen.
Durchführung: Beratung des Bewohners
  • Oftmals entwickelt sich zwischen Pflegekräften und dem Bewohner ein belastbares Vertrauensverhältnis. Es ist uns dann ggf. möglich, den Bewohner für die Suchtproblematik zu sensibilisieren und für einen Entzug zu motivieren.
  • Immer wenn wir Nebenwirkungen der Benzodiazepine bemerken, machen wir den Bewohner auf die Zusammenhänge aufmerksam. Beispiel: Der Bewohner beklagt sich, dass ihm oft schwindelig ist und dass er Angst vor einem Sturz hat. Wir erläutern dem Bewohner dann, dass dieses auf die Benzodiazepine zurückzuführen sein könnte.
  • Begriffe wie “Sucht”, “Abhängigkeit” und “Entzug” wirken auf viele Betroffene abschreckend. Es ist sinnvoll, im Gespräch mit dem Betroffenen eher Bezeichnungen wie “Gewöhnung” oder “Dosisreduzierung” zu nutzen. Damit können ­Abwehrreaktionen vermieden werden.
  • Wir stehen dem Bewohner jederzeit für ein Gespräch zur Verfügung. Wir machen ihm Mut, dass er eine etwaige Therapie durchstehen kann. Er soll sich nicht dafür schämen, dass er im hohen Alter unter einer Suchterkrankung leidet.
Prüfung einer Entzugsbehandlung und Begleitung des Bewohners
  • Wir prüfen, ob der Arzt als Partner für eine Entzugsbehandlung geeignet ist. Bei einem Mediziner, der den Patienten über Jahre mit diesem Medikament versorgt hat, ist dieses i. d. R. nicht der Fall. Wir werben bei dem Bewohner und bei seinen Angehörigen nachdrücklich für einen Arztwechsel.
  • Gemeinsam mit einem kooperativen Arzt prüfen wir, ob eine stationäre Behandlung in einer geeigneten Fachklinik sinnvoll ist. Angesichts der wenigen Therapieplätze und der Pflegebedürftigkeit des Senioren ist dieses zumeist nicht möglich. Zudem möchten viele alte Menschen ihre vertraute Umgebung nicht verlassen.
  • Zusammen mit dem behandelnden Mediziner planen wir die Vorgehensweise, also insbesondere die Reduktion der Dosierung. Wir prüfen auch, ob sich die gewünschte Wirkung der Benzodiazepine auch auf andere Weise erreichen lässt. So können Einschlafrituale und ein geänderter Genussmittelkonsum eine erholsame Nachtruhe auch ohne Medikamentenapplikation ermöglichen.
  • Wir beobachten, welche körperlichen Reaktionen während der Entzugsbehandlung auftreten. Diese werden sorgfältig dokumentiert und bei Bedarf dem Arzt mitgeteilt.
  • Wir befragen den Bewohner täglich zu seinem Befinden. Er soll Gelegenheit bekommen, auch über seine Gefühle und über seine Ängste zu sprechen. Der Bewohner wird für jeden Tag, den er während der Entzugsbehandlung durchhält, von uns gelobt.
  • Wir prüfen, ob Angehörige und Freunde in die Entzugsbehandlung eingebunden werden. Diese können den Bewohner mental unterstützen und z. B. vom Suchtverlangen ablenken. Ggf. kann es sinnvoll sein, den Kontakt zu Selbsthilfegruppen herzustellen.
Begleitung des abhängigen Senioren
Oftmals ist es nicht möglich, den Bewohner zu einem Entzug zu bewegen. Dann ist es unsere Aufgabe, Risiken, die sich aus dem Benzodiazepinkonsum ergeben, zu minimieren. Wir achten insbesondere auf die zahlreichen Nebenwirkungen.
  • Soweit es der Bewohner akzeptiert, wird die Medikamentierung umgestellt. Bevorzugt sollten Benzodiazepine mit einer kurzen Halbwertszeit eingesetzt werden.
  • Wir versuchen zu verhindern, dass parallel Alkohol konsumiert wird.
  • Wir beachten, dass Benzodiazepine mit anderen Arzneimitteln interagieren können. Dazu zählen etwa Psychopharmaka, Antidepressiva, Schmerzmittel, Magenmittel und viele mehr.
  • Wenn beim Bewohner Müdigkeit sowie verminderte Aufmerksamkeit einsetzen, sorgen wir dafür, dass er sich ausruhen kann. Wir prüfen, zu welchen Tageszeiten die größten mentalen Ressourcen zur Verfügung stehen. Planbare Pflegemaßnahmen sowie Beschäftigungsangebote werden entsprechend verschoben. Alternativ prüfen wir, ob die Medikamenteneinnahme zu einem anderen Tageszeitpunkt erfolgen kann. Insbesondere bei lang wirksamen Substanzen oder bei Kumulation kommt es zu einer morgendlichen Müdigkeit, dem sog. “Hang over”.
  • Bei Muskelschwäche, bei Gleichgewichts

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Weitere Informationen zu diesem Thema
Schlüsselwörter für diese Seite Benzodiazepin; Depression; Suizid; Suizidprävention; Prophylaxe; Selbstmord; Tranquilizer
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