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Version 2.05a - 2016

Deprivationsprophylaxe (stationäre Pflege)

 
Zu Tode langweilen. Diese flapsige Bemerkung kann in der Altenpflege schnell zur grausigen Realität werden. Wer mangels Bewegungsfähigkeit tagein tagaus an die weiße Zimmerdecke starren muss, verliert zwangsläufig irgendwann den Verstand. Deprivation ist bei der Betreuung immobiler Klienten oder Bewohner ein ernst zu nehmendes Pflegeproblem.
 

Wichtige Hinweise:

  • Zweck unseres Musters ist es nicht, unverändert in das QM-Handbuch kopiert zu werden. Dieser Pflegestandard muss in einem Qualitätszirkel diskutiert und an die Gegebenheiten vor Ort anpasst werden.
  • Unverzichtbar ist immer auch eine inhaltliche Beteiligung der jeweiligen Haus- und Fachärzte, da einzelne Maßnahmen vom Arzt angeordnet werden müssen. Außerdem sind etwa einige Maßnahmen bei bestimmten Krankheitsbildern kontraindiziert.
  • Dieser Standard eignet sich für die ambulante und stationäre Pflege. Einzelne Begriffe müssen jedoch ggf. ausgewechselt werden, etwa "Bewohner" gegen "Patient".


Dieses Dokument ist auch als Word-Dokument (doc-Format) verfügbar. Klicken Sie hier!

 

Deprivationsprophylaxe (stationäre Pflege)
Definition:
  • Deprivation (auch "psychischer Hospitalismus") ist definiert als das Vorenthalten von körperlicher und emotionaler Zuwendung sowie dem Entzug von Sinnesreizen. Geprägt wurde dieser Begriff ursprünglich im Zusammenhang mit verwahrlosten Heimkindern, inzwischen wird er auch in der Altenpflege vor allem bei gänzlich immobilen Senioren genutzt.
  • Deprivation löst bei Senioren seelische Schäden aus wie etwa Passivität, Apathie, Depression und Regression. Sogar Todesfälle sind bei extremer Deprivation möglich.
Grundsätze:
  • Deprivation ist keine unvermeidliche Folge von Pflegebedürftigkeit und Immobilität. Durch einen respektvollen Umgang mit dem Bewohner und durch aktivierende Pflege können die Erkrankung vermieden oder zumindest deren Folgen begrenzt werden.
  • Wir warten nicht ab, bis der Bewohner aus eigenem Wunsch nach Reizen verlangt, sondern bieten diese von uns aus an.
  • Ein zentraler Erfolgsfaktor für die Deprivationsprophylaxe ist die genaue Kenntnis biografischer Vorlieben und Gewohnheiten.
Ziele:
  • Eine erhöhte Gefährdung für eine Deprivation wird zeitnah erkannt.
  • Ein Reizmangel wird vermieden. Wir stellen eine vielfältige sensorische Reizaufnahme sicher. Wir sorgen insbesondere für Anregungen im visuellen und im kommunikativen Bereich.
  • Der Bewohner wird stärker in die Gemeinschaft der Einrichtung eingebunden. Eine Isolation wird vermieden.
  • Angehörige und Freunde des Bewohners sind motiviert, durch eine aktive Mithilfe eine Deprivation zu verhindern.
  • Die Körperwahrnehmung wird verbessert.
  • Die Folgen einer Deprivation werden gelindert.
Vorbereitung: allgemeine Maßnahmen
  • Wenigstens zwei Pflegefachkräfte unserer Einrichtung verfügen über eine Weiterbildung zur gerontopsychiatrischen Fachkraft.
  • Durch interne Schulungen stellen wir sicher, dass alle Pflegekräfte in Grundzügen das Konzept der basalen Stimulation verstehen und anwenden können. Dieses gilt auch für die Konzepte “validierende Kommunikation” sowie “R.O.T.”.
  • Wir sensibilisieren auch andere Berufsgruppen, etwa Hauswirtschaftskräfte oder Ergotherapeuten. Wir bitten diese, entsprechende Beobachtungen an die Pflegekräfte weiterzugeben.
  • Wir setzen strikt auf das System der Bezugspflege.
Gefährdungsgrad bestimmen
Wir prüfen regelmäßig, inwieweit der einzelne Bewohner von einer Deprivation bedroht ist. Das Risiko ist bei verschiedenen Kriterien erhöht:
  • Die Sinnesfunktionen des Bewohners sind geschwächt. Dazu zählen nachlassende Sehfähigkeiten, ein geschädigtes Gehör sowie Beeinträchtigungen des Riech- und des Geschmackssinns. Relevant sind aber auch Sinne wie der Tastsinn oder das Wärmeempfinden.
  • Es fällt dem Bewohner schwer, soziale Kontakte aufzubauen.
  • Er leidet bereits an anderen psychischen Erkrankungen.
  • Der Bewohner musste in letzter Zeit verschiedene schwere Schicksalsschläge verarbeiten. Enge Bezugspersonen sind verstorben oder weggezogen.
  • Der soziale oder der räumliche Bezugsrahmen hat sich verändert, also etwa durch einen unlängst erfolgten Umzug in das Pflegeheim.
  • Der Bewohner muss sich restriktiven therapeutischen Einschränkungen unterwerfen, etwa eine Isolation aufgrund einer Infektionskrankheit oder strikte Bettruhe nach einer TEP-Operation.
achten auf Symptome
Wir achten auf Symptome, die für eine sich entwickelnde Deprivation sprechen. Etwa:
  • Der Bewohner zeigt ein regressives Verhalten, er wird also wieder "zum Kind". Obwohl er über ausreichende Selbstversorgungsfähigkeiten verfügt, lässt er sich waschen oder die Nahrung anreichen. Es handelt sich dabei zumeist um den unbewussten Versuch, Aufmerksamkeit zu erzwingen.
  • Der Bewohner vernachlässigt seinen Körper, wäscht sich z. B. nicht.
  • Der Bewohner zeigt Abwehrreaktionen, er schreckt z. B. bei Berührungen zusammen.
  • Der Bewohner führt permanent Schaukelbewegungen aus oder nestelt an seiner Kleidung.
  • Der Bewohner summt oder klagt permanent. Mitunter werden auch pausenlos einzelne Sätze oder Gebete wiederholt. Er führt Selbstgespräche oder schreit laut.
  • Der Bewohner ist apathisch. An seiner Umwelt ist er nicht mehr interessiert. Er ist teilnahmslos und reagiert kaum noch auf Ansprache.
  • Der Bewohner redet wenig oder verweigert die Kommunikation vollständig.
  • Der Bewohner äußert den Wunsch zu sterben.
  • Der Bewohner zieht sich zurück. Er verlässt sein Zimmer nur selten und bewegt sich kaum noch.
  • Der Bewohner isst zu wenig oder verweigert die Nahrung vollständig.
  • Der Bewohner leidet unter Inkontinenz, ohne dass es dafür einen organischen Auslöser geben würde.
  • Der Bewohner leidet unter Panikattacken oder unter Depressionen.
  • Der Bewohner zeigt Anzeichen akuter Verwirrtheitszustände. Seine Denkweise wirkt verlangsamt, zerfahren und unzusammenhängend. Seine Sprache ist wirr und verwaschen.
  • Es kommt zu Illusionen und zu Halluzinationen, etwa das Sehen von kleinen Tieren wie Käfern oder Spinnen.
Ursachensuche
Wir versuchen zu bestimmen, wodurch die Deprivation verursacht wurde. Dieses erlaubt Rückschlüsse auf die Deprivationsform. Abhängig von den Ergebnissen regen wir ggf. eine fachärztliche Untersuchung an.
  • Sensorische Deprivation, also der Entzug von Sinnesreizen:
    • Die Hörfähigkeiten des Bewohners sind eingeschränkt, etwa weil er kein Hörgerät tragen will oder weil eine vollständige Gehörlosigkeit vorliegt.
    • Der Bewohner leidet an einer Sehbehinderung, etwa ausgelöst von einem fortgeschrittenen Glaukom.
    • Die Sensibilität ist gestört, etwa als Folge einer Multiplen Sklerose oder eines operativen Eingriffs.
  • Soziale Deprivation, also der Mangel an zwischenmenschlichen Kontakten
    • Der Bewohner wird von der Gemeinschaft gemieden, z. B. weil seine Körperhygiene unzureichend ist oder weil er aggressives Verhalten zeigt.
    • Es gibt keine familiären Kontakte, Freunde sind verstorben usw.
    • Der Bewohner isoliert sich von der Gemeinschaft innerhalb der Einrichtung, etwa weil er einen Migrationshintergrund hat und weil er die Sprache nicht versteht.
  • Kognitive Deprivation, also ein Mangel an Anregung
    • Der Bewohner langweilt sich, etwa weil er aufgrund einer rheumatischen Erkrankung der Hände seinen Hobbys nicht mehr nachgehen kann.
    • Der Tagesablauf ist monoton und bietet keine Abwechslung.
    • Das Wohnumfeld ist zu einheitlich gestaltet. Alle Zimmer und alle Flure der Einrichtung sehen immer gleich aus.
Durchführung: Gestaltung der Umgebung
  • Wir reichern das Zimmer des Bewohners mit farblichen Elementen an. Dazu zählen etwa farbenfrohe Bettwäsche, bunte Gardinen und Vorhänge, frische Blumen usw.
  • Wir stellen sicher, dass das Zimmer des Bewohners am Tag gut ausgeleuchtet ist. In der Nacht nutzen wir ein Nachtlicht und lassen im Badezimmer ein Licht brennen. Durch die Fenster sollte Licht von außen in den Raum des Bewohners fallen und ihm eine tageszeitliche Orientierung erlauben.
  • Soweit dieses noch möglich ist, passen wir die Raumgestaltung des Wohnbereichs an. Lange Flure werden durch aufgestellte Sitzgelegenheiten optisch aufgelockert. Wir sorgen zudem für Orientierungshilfen und vermeiden ein einheitlich-monotones Mobiliar.
  • Die Zimmertür des Bewohners wird nur auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin geschlossen. Wenn die Tür geöffnet ist, kann der Bewohner die Geräusche außerhalb seines Zimmers leichter wahrnehmen. Dabei ist es wichtig, dass der Bewohner in der Lage ist, zumindest Teile des Flurs einzusehen. Er kann dann visuelle mit akustischen Reizen abgleichen, etwa wenn er erst den klappernden Geschirrwagen hört und dann sieht.
  • Wir prüfen, ob es für den Bewohner angenehmer ist, in einem Doppelzimmer zu leben, statt ein Einzelzimmer zu bewohnen.
  • Wenn der Bewohner viel Zeit in der Rückenlage verbringt, sollte die Zimmerdecke in die Raumgestaltung einbezogen werden. Dort könnten etwa Kunstdrucke mit ansprechenden Motiven aufgehängt werden. Soweit akzeptiert kann alternativ ein Mobile genutzt werden, wobei wir allerdings ausschließen müssen, dass der Bewohner Epileptiker ist.
  • Im Sichtbereich des Bewohners sollten Fotos aufgestellt werden. Diese können etwa dem privaten Fotoalbum entnommen werden oder von Angehörigen mitgebracht werden. Möglich sind auch vertraute oder lieb gewonnene Gegenstände, etwa die Bastelarbeit eines Enkels.
  • Das Bett des Bewohners wird so aufgestellt, dass dieser ein möglichst freies Blickfeld zum Fenster hat.
  • Falls möglich wird der Bewohner samt Bett ins Freie geschoben, etwa in den Schatten einer Terrasse oder vor ein Aquarium oder vor eine Vogelvoliere. Ggf. kann der Bewohner auch in seinem Bett liegend in das Zimmer eines Freundes geschoben werden.
  • Wir arbeiten mit ehrenamtlichen Mitarbeitern zusammen, die den Bewohner regelmäßig besuchen. Insbesondere prüfen wir, wie der Bewohner auf mitgebrachte Haustiere des mobilen Tierbesuchsdienstes reagiert.
  • Wir geben dem Bewohner die Möglichkeit, mit seinen Angehörigen zu telefonieren. Sofern dieses sinnvoll ist, kann auch die Videotelefonie moderner Smartphones genutzt werden. Im Gespräch mit dem Bewohner fragen wir nach Freunden und Bekannten, die ggf. noch nicht über den Heimaufenthalt informiert sind, und bieten an sie zu kontaktieren.
  • Unangenehme Gerüche werden konsequent beseitigt, insbesondere Urin- und Stuhlgerüche.
  • Die Temperatur sollte nicht zwangsweise konstant gehalten werden, etwa durch den Einsatz einer Klimaanlage. Sofern keine medizinischen oder pflegerischen Gründe dagegen sprechen, sollte etwa im Sommer die Wärme auch in das Bewohnerzimmer gelassen werden. Am Morgen kann es kühler sein als am Nachmittag.
  • Der Einsatz einer Superweichmatratze wird kritisch hinterfragt, da diese dem Bewohner die Körperwahrnehmung deutlich erschwert. Wir nutzen dieses Hilfsmittel lediglich bei einer akuten Dekubitusgefahr, die auf andere Weise nicht abgewendet werden kann.
  • Wir stellen den Fernseher oder das Radio an, soweit es der Bewohner wünscht. Die Dauer der Mediennutzung richtet sich nach dem Aufnahmevermögen des Bewohners. Sobald dieser "berieselt" wird, wird das Gerät wieder abgeschaltet.
  • Wir nutzen Hörbücher oder eine “vorgelesene Wochenzeitung” (etwa: “ZEIT Audio” im digitalen Abo).
  • Sofern der Bewohner in der Lage ist, eine Fernbedienung zu nutzen, wird ihm diese in die Hand gegeben. Ggf. werden die wichtigsten Tasten für ihn markiert, also “Kanal vor”, “Kanal zurück”, “lauter, “leiser” sowie “An/aus”.
(Hinweis: Alle o. g. Maßnahmen müssen gut dosiert werden. Ein Übermaß an Reizen führt zur Reizüberflutung und letztlich erneut zur Deprivation.)
pflegerische Maßnahmen

  • Der Bewohner wird wann immer möglich mit erhöhtem Oberkörper gelagert, damit er seine Umgebung besser wahrnehmen kann (Bild oben).
  • Soweit möglich wird der Bewohner aus dem Bett z. B. in einen Schaukelstuhl mobilisiert.
  • Wenn keine Mobilisierung aus dem Bett möglich ist, wird der Bewohner in möglichst vielen unterschiedlichen Varianten gelagert. Insbesondere verändern wir die Lage der Extremitäten, lagern also die Arme und Beine mal oben, unten oder übereinander.
  • Das Krankheitsbild eines Bewohners mit Deprivation kann dem einer Demenz ähnlich sein. Durch eine sorgfältige Beobachtung versuchen wir, beide Krankheiten sicher voneinander zu unterscheiden. (Hinweis: Eine Deprivation kann in einen akuten Verwirrtheitszustand übergehen.)
  • Wir setzen konsequent auf das System der Bezugspflege. Nur so kann zwischen dem Bewohner und der Pflegekraft eine enge persönliche Beziehung entstehen.
  • Wir beachten die Bedeutung der aktivierenden Pflege. Der Bewohner muss so viele Probleme und Aufgaben so selbstständig wie möglich lösen. Nehmen wir ihm diese Tätigkeiten ab, verliert er wichtige Fähigkeiten.
  • Wir sorgen dafür, dass der Bewohner die vorhandenen Hilfsmittel nutzt, insbesondere Seh-, Hör- und Gehhilfen.



 
 
 
 
Weitere Informationen zu diesem Thema
Schlüsselwörter für diese Seite Deprivation; Langeweile; Umweltgestaltung; Beschäftigung; Hospitalismus; Prophylaxe
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